Es sind die knapp fünf Minuten vor dieser Eckkneipe in Bad Cannstatt, die über alles entscheiden. Um kurz nach 3.00 Uhr morgens in dieser Nacht im November 2021, so zeichnet es die Überwachungskamera auf, verlässt ein Mann mit grauem Haar gemeinsam mit einer blonden, zierlichen Frau die Bar. Er ist damals 47 Jahre alt und der ranghöchste Polizist des Landes. Sie ist 32 Jahre alt, Kriminalhauptkommissarin mit Ambitionen auf den höheren Dienst. Er gibt dem Wirt noch ein Zeichen, reckt den Daumen, dass sie gleich wieder da sind. Dann gehen die beiden durch die Tür nach draußen.
Was dann passiert, da draußen in der Gasse, wird von keiner Kamera aufgezeichnet. Aussage steht gegen Aussage: Sie sagt, er habe ihre Hand an sein Glied geführt und uriniert, das mache ihn scharf, habe er dabei gesagt. Sie wirft ihm sexuelle Nötigung vor. Deshalb steht der mittlerweile vom Dienst freigestellte Inspekteur des Landes vor Gericht und vor den Trümmern seiner Karriere. Er sieht sich selbst als Opfer, sagt, sie habe an dem Abend die Initiative ergriffen, nach seinem Geschlechtsteil gegriffen.
Auf den unscharfen Aufnahmen, die am Montag im Gerichtssaal 1 des Landgerichts gezeigt werden, ist zu sehen, wie die beiden nach den fünf Minuten draußen wieder die Kneipe betreten, wie sie küssen, kuscheln und knutschen. Die Aufnahmen sind von schlechter Qualität, aber die Zärtlichkeiten wirken intensiver als vor der Pinkelpause. Vor allem sie scheint sichtlich betrunken zu sein, muss den Kopf immer wieder in ihre Hände stützen. Die Nebenkläger, die die junge Kommissarin vertreten, interpretieren die verschwommenen Bilder aus der rot beleuchteten Kneipe völlig anders als die Verteidiger des Inspekteurs. Wer legt wem die Hand auf den Schenkel, wer greift wem ins Haar? Jede Zärtlichkeit, jeder Kuss, jede Handbewegung wird vor Gericht seziert und als Waffe gegen die Gegenseite verwendet.
Für die Verteidigung des Inspekteurs ist kein einziger Moment auf den Bildern erkennbar, in dem die Anzeigenerstatterin auch nur im Ansatz den Eindruck von Ekel, Schock oder Angst erweckt. Die sexuellen Berührungen seien bewusst von der Polizistin ausgegangen. Sie habe ihrem Mandanten in derselben Nacht sogar noch eine Textnachricht geschickt, dass sie gut nach Hause gekommen sei, sagt seine Anwältin. Die Nebenklage hingegen will in den Videos erkennen, dass die Initiative zum Küssen nicht ein einziges Mal von der Kommissarin ausging. Sie habe immer wieder den Kopf weggezogen, er habe nachgesetzt. Sie habe zudem »eher widerstandslos mit sehr wenig Körperspannung« gewirkt, alkoholisiert und »sichtlich durch«.
Hat der ranghöchste Polizist seine Machtstellung also missbraucht, um eine Untergebene zu sexuellen Gefälligkeiten zu drängen? Dass sie ihn nicht aktiv abgewehrt habe, stehe nicht im Widerspruch zur Anklage, sagt der Anwalt der Frau am Dienstag. Der Jurist spricht von einer nötigungsähnlichen Zwangslage, es brauche gar keinen »erkennbar entgegenstehenden Willen«.
Der Fall schlug große Wellen - und ist auch Thema eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Der Prozess vor dem Landgericht gleicht bereits nach zwei Verhandlungstagen einer juristischen Schlammschlacht, die über die Presse ausgetragen wird. Zum Prozessauftakt am Freitag hatte die Verteidigung des Inspekteurs die Anzeigenerstatterin in einer Erklärung als Lügnerin dargestellt, als eine Frau, die zum eigenen Vorteil Kontakt zu höhergestellten Männern suche. Am Montag holten die Nebenkläger zum Gegenschlag aus. Nachdem sie sich in der Verhandlung nicht zum Schreiben der Verteidigung äußern durften, verteilten sie in der Sitzungspause ihrerseits Zettel an die anwesenden Journalisten. »Eine junge Polizeibeamtin wird mit falschen Darstellungen in den Dreck gezogen und diffamiert«, heißt es darin.
Die Nebenkläger werfen dem Inspekteur die Verunglimpfung der Frau vor. Der Angeklagte führe seine Verteidigung über die mediale Diffamierung einer jungen Beamtin, heißt es in dem Schreiben. »Mit einem fairen und sauberen Verfahren hat dieses Verhalten jedenfalls nichts, aber auch gar nichts zu tun.« Die Nebenkläger sehen sogar eine Straftat vorliegen, weil die Presseerklärung ohne Wissen des Gerichts verteilt worden sei. »Rechtlich sind die Inhalte dieser Erklärung leicht zu bewerten«, steht in dem Schreiben. »Ich bin sicher, die Staatsanwaltschaft wird hier ermitteln.« Auf Nachfrage der Journalisten wollte der Anwalt nicht konkretisieren, auf welchen Straftatbestand er anspielt.
Der Prozess soll am Dienstag fortgesetzt werden - unter anderem mit der Vernehmung von Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz.
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