Die jüngste Studie über die Leistungen in den baden-württembergischen Grundschulen hat tiefe Spuren hinterlassen. Im einstigen Bildungsmusterland haben Viertklässler immer stärkere Probleme beim Lesen und Zuhören, fast jedes fünfte Kind schafft die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht. Baden-Württemberg hat es schwarz auf weiß, der Südwesten bleibt im bundesweiten Vergleich nur Mittelmaß. Weil vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder mit einem Zuwanderungshintergrund schlecht abschnitten, will das Land vom kommenden Jahr an mit zunächst zwei Förderprojekten probeweise gegensteuern.
Mehrere Dutzend Grundschulen sollen in den nächsten vier Jahren testen, ob Lehrer an sozialen Brennpunkten durch Fördermittel oder Profis aus anderen Branchen entlastet und Schüler unterstützt werden können. Es soll unter den Kindern und Jugendlichen mehr Chancengleichheit geben, unabhängig vom Elternhaus, wie Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) am Dienstag in Stuttgart ankündigte. Studien und Trends zeigten, dass ein schlechter ausgestattetes Elternhaus die Leistungen belaste. Die Einkommenssituation der Eltern dürfe aber nicht der entscheidende Faktor für Bildung sein, sagte Schopper.
In Weil am Rhein gibt es zum Beispiel Kinder aus gut situierten Stadtvierteln, wie Schopper erzählt, denen im Kindergarten vorgelesen wurde, mit denen Zahlenspiele gemacht wurden und die für ihr Alter sprachkompetent sind. »Die haben sozusagen alle Voraussetzungen, um ihren schulischen Alltag gut zu bewältigen«, sagte die Ministerin. Es gebe in anderen Stadtvierteln aber auch »Kinder, die schon mal einen Stift halten, als wollten sie einen Stock in den Boden rammen«, die einen kleineren Wortschatz hätten. Oft seien das Kinder aus einer Familie mit sozial schwächerem Hintergrund und denen müsse geholfen werden.
Der Plan: Zum einen sollen sogenannte multiprofessionelle Teams an je vier Schulen in den vier Regierungsbezirken eingesetzt werden. »Die Schulen erhalten ein Budget, mit dem sie Unterstützungskräfte finanzieren«, erklärte Schopper. »So holen wir beispielsweise Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Logopädinnen und Logopäden und Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten an Bord.«
Zudem werden bislang 30 Schulen in den Bereichen der Schulämter Biberach, Lörrach und Tübingen besser ausgestattet. Ab dem Schuljahr 2023/2024 soll ein entwickelter Sozialindex bestimmen, welche Schulen in diesen Schulämtern ihren Unterricht in einem schwierigen Umfeld anbieten. Erfahrungen mit einer besonderen Förderung haben diese drei Schulämter bereits gemacht. An einzelnen Schulen habe sich dabei gezeigt, dass alle von dem zusätzlichen Know-how profitieren könnten. »Ich bin deswegen sehr optimistisch, was den Erfolg unseres Vorhabens angeht«, sagte Schopper.
Ähnliche Pläne haben Bundesländer wie Sachsen und Nordrhein-Westfalen schon angekündigt. Auch das baden-württembergische Regierungsbündnis aus Grünen und CDU verspricht schon im Koalitionsvertrag eine »sozialindexbasierte Ressourcenverteilung«.
Der ausschlaggebende Index wird laut Kultusministerium nach sozialen Aspekten vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg entwickelt. Es fließen unter anderem Faktoren ein wie die Kaufkraft oder die Zahl der Sozialhilfeempfänger. Der Index soll passgenau Einfluss darauf haben, welche Ressourcen eine Schule zum Beispiel für Ausstattung oder Förderung erhält.
Der Grundschulverband Baden-Württemberg wirbt für das Sozialmodell. Die Ressourcen dürften aber nicht einfach umgelagert werden, sondern müssten »oben drauf kommen«, sagte Vorstand Edgar Bohn. Skeptischer äußert sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Landesregierung könne mutiger sein, sagte die Landesvorsitzende Monika Stein. »Bisher will sie nur kleine Brötchen backen.« Um Ressourcen sozialindexbasiert verteilen zu können, müssten die entsprechenden Ressourcen zudem erst einmal vorhanden sein, kritisierte Stein. Es gebe an den Grundschulen aber nicht einmal genug Lehrkräfte für den Pflichtbereich.
Für den Verband Bildung und Erziehung (VBE) muss es landesweit multiprofessionelle Teams geben. Davon sei das Land aber »meilenweit entfernt«, sagte der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand. Es seien 16 Modellschulen geplant, es gebe aber 2326 Grundschulen im Land. Außerdem müssten erst alle Schulen komplett mit Lehrerstellen ausgestattet sein. »Wenn dies gewährleistet ist, können wir über einen Sozialindex reden«, sagte Brand. Derzeit trügen fast alle Schulen wegen der Pandemiefolgen und der Integration von Flüchtlingskindern »ein immenses Zusatzpäckchen«.
Die VBE-Forderung dürfte sich aber als unrealistisch erweisen, denn nach einer Studie fehlen im Südwesten bis zum Jahr 2035 fast 17.000 Lehrerinnen und Lehrer. Wenn das Land seine Ziele bei den Grundschulen und der Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen erreichen will, müssten sogar noch deutlich mehr Lehrkräfte eingestellt werden.
Deshalb schaut die SPD auf die Uhr: »Wenn der Ministerpräsident heute sagt, die Modellprojekte sollen erprobt werden und dann vielleicht im Jahr 2027 erste Ergebnisse liefern, dann geht noch eine ganze Grundschulgeneration durch die Schule, ohne ein einziges Unterstützungsangebot zu erhalten« bemängelte der SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Stoch.
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