Mit höllischem Getöse sind mitten in der Nacht in der Schweiz riesige Felsmassen einen Berghang hinuntergestürzt. Sie haben das Dorf Brienz im Kanton Graubünden nur knapp verfehlt. Dort hielt sich zum Zeitpunkt des Schuttstroms in der Nacht zu Freitag niemand auf. Das Dorf war vorher geräumt worden. »Brienz hatte großes Glück«, sagte Christian Gartmann, Sprecher der zuständigen Gemeinde Albula, dem Sender SRF. »Wir gehen im Moment nicht davon aus, dass es Schäden gab.« Gemeindepräsident Daniel Albertin war erleichtert: »Heute ist einer der besten Tage seit der Evakuierung«, sagte er bei einer Pressekonferenz. »Es ist so gekommen, wie wir es vorhergesehen haben. Und es ist niemand zu Schaden gekommen.«
Geröll und Steine stürzten in der Nacht zu Freitag zwischen 23.00 Uhr und Mitternacht den Hang hinunter. Es habe so laut gerumpelt, dass das Getöse im ganzen Talkessel zu hören war, sagte Gartmann. Dort hörten es auch die meisten der rund 80 Einwohner. Sie hatten ihr Dorf auf rund 1100 Metern Höhe Mitte Mai verlassen müssen und harrten bei Verwandten in der Nähe oder in Ferienwohnungen aus. Über Webcams konnten sie beobachten, was mit ihrem Dorf passiert. Seit Tagen waren dort größere Gesteinsbrocken den Hang hinuntergedonnert und auf einer Wiese liegen geblieben. Der große Schuttstrom aus der Nacht kam wenige Meter vor dem alten Schulhaus zum Halten. Die Straße nach Lenzerheide liegt teils unter zwölf Metern Schutt.
Vorher-Nachher-Bilder zeigen die massiven Veränderungen im Landschaftsbild. Am Vortag waren in dem Gebiet noch nackte Felsen, einzelne Brocken, helles und dunkles Gestein sowie darunter Wiese, Bäume und eine Holzhütte zu erkennen. Am Freitag lag dies alles unter einem gigantischen grauen Schuttberg. Das Dorf sieht auf den Bildern im Vergleich dazu wie eine Miniaturanlage aus. Brienz liegt im Kanton Graubünden rund 25 Kilometer Luftlinie südwestlich von Davos.
Geprüft werde noch, ob die Wohnhäuser und die Kirche wirklich völlig verschont blieben, sagte Gartmann. »Bei solchen Ereignissen krachen manchmal Felsblöcke auf andere Blöcke. Dann gibt es Splittersteine von der Größe einer Faust bis zu einem Fußball.« Sie könnten »wie eine Kanonenkugel« Hunderte Meter durch die Luft schießen und Fensterscheiben oder andere Gebäudeteile beschädigen. Bei einem ersten Hubschrauberüberflug habe es nicht nach Schäden ausgesehen.
Nach Angaben des Geologen Stefan Schneider donnerten zwei Drittel bis drei Viertel der geschätzten zwei Millionen absturzgefährdeten Felsmassen den Hang hinunter. Auch am Freitag war nach Angaben von Anwohnern in Tiefencastel immer wieder Gerumpel zu hören und Staub stieg an der Absturzstelle auf. Die Gefahr weiterer Schuttströme bis zum Dorf galten vorerst als gering. Was aber mit dem Gestein oberhalb der Abbruchstellen ist, müsse mit neuen Messungen erst geprüft werden, sagte Schneider. Es werde einige Tage dauern, bis man die Gefahrenlage beurteilen könne. »Wir hoffen, dass die Bevölkerung nach Brienz zurückkehren kann«, sagte Peter Peyer, Regierungspräsident von Graubünden. »Die Sicherheit geht aber in jedem Fall vor.«
Unterhalb des Dorfes waren vorübergehend Straßen und Bahnstrecken gesperrt worden. Der Bahnverkehr in den Ferienort St. Moritz wurde umgeleitet.
Anders als beim jüngsten Bergsturz in Tirol in Österreich ist in Brienz nicht der Klimawandel Auslöser. Er führt andernorts dazu, dass der Permafrost schmilzt, also das Eis, das Fels in großen Höhen wie Klebstoff zusammenhält. In Tirol waren am vergangenen Sonntag rund 100 000 Kubikmeter abgestürzt. Hunderte Meter des Südgipfels des Fluchthorn-Massivs samt Gipfelkreuz brachen ab. Das Felsmaterial landete fernab von bewohnten Gebieten und gefährdete niemanden.
Der Berg oberhalb von Brienz ist nach Angaben von Experten aber seit Jahrtausenden in Bewegung. Die Rutschung hatte sich über Jahre beschleunigt. Als es im Frühjahr zu brenzlich wurde, hatte die Gemeinde beschlossen, die Einwohner in Sicherheit zu bringen.
Zeitung Blick mit Vorher-Nachher-Bildern
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