Die Flüchtlingslage im Land spitzt sich zu. Das Land komme an seine an Kapazitätsgrenzen, warnte Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Dienstag in Stuttgart. Seit Beginn des Angriffskriegs habe das Land 128.000 Menschen allein aus der Ukraine Zuflucht gewährt, so der Grünen-Politiker. Und die Belastung könnte mit der angekündigten Teilmobilmachung von Präsident Wladimir Putin weiter zunehmen: Nach Angaben der Stadt Stuttgart haben bereits die ersten Männer aus Russland Antrag auf Asyl gestellt, die behaupteten, Kriegsdienstverweigerer zu sein.
Eine kleine Gruppe von Männern habe sich am Freitag in der Jägerstraße gemeldet, wo Sozialamt und Ausländerbehörde seien, sagte ein Sprecher der Landeshauptstadt. Man habe sie an die Landeserstaufnahmestellen verwiesen, weil es noch keine rechtlichen Vorgaben für Deserteure gibt und damit keine Möglichkeit der Stadt, ihnen zu helfen. »Wir wissen nicht, was aus den jungen Männern geworden ist.« Die »Stuttgarter Zeitung« hatte zuerst über die Männer berichtet.
Zunehmend wird zudem Kritik aus den Kommunen und aus der CDU laut an den vergleichsweise hohen Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge. »Es ist wichtig, dass die Menschen unterkommen, dass wir ihnen Schutz bieten, aber bei dem Leistungsniveau müssen wir uns überlegen, was realistisch ist und Sinn macht - auch im europäischen Kontext«, sagte der für Migration zuständige Staatssekretär Siegfried Lorek (CDU) der Deutschen Presse-Agentur. »Einen Pull-Effekt kann man nicht ausschließen.« Laut Europäischer Registrierungsplattform seien 45 000 der in Deutschland angekommenen ukrainischen Geflüchteten bereits in einem anderen Land registriert gewesen, sagte Lorek. Andere europäische Länder müssten mehr Flüchtlinge aufnehmen.
Kretschmann allerdings wies die Kritik an den Sozialleistungen zurück. Es gebe keine belastbaren Zahlen dafür, dass Ukrainer deshalb aus anderen EU-Ländern nach Deutschland kämen. Mit Blick auf die Äußerung des Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, der im Zusammenhang mit Ukraine-Flüchtlingen von »Sozialtourismus« sprach, sagte Kretschmann, man sollte in der Debatte Worte wählen, die man am nächsten Tag nicht bereuen müsse. Merz hatte sich danach für die Äußerung entschuldigt.
Kretschmann reagierte auch erbost auf die Kritik der Grünen Jugend an der Asylpolitik des Landes. Er könne solche Angriffe nicht akzeptieren, sie hätten keine Grundlage, sagte er. Land und Bürgerschaft hätten viel geleistet für Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge. In einer solchen Situation einen »Frontalangriff« auf die Flüchtlingspolitik der Landesregierung zu machen, sei »abwegig«, sagte der Regierungschef in Richtung der Jugendorganisation seiner eigenen Partei.
Die Grüne Jugend hatte beim Landesparteitag der Südwest-Grünen am Wochenende die Asyl- und Migrationspolitik der Landesregierung inbesondere mit Blick auf die Abschiebungepraxis als »katastrophal« bezeichnet. Die Jugendorganisation hatte kritisiert, dass die grün-schwarze Landesregierung sich hinter einzelnen Ministerien verstecke - »oder hinter der abscheulichen Abteilung des Regierungspräsidiums Karlsruhe«, die die Abschiebungen organisiere.
Kretschmann sagte, er könne damit umgehen, wenn die Grüne Jugend ihn kritisiere - das geschehe nicht zum ersten Mal. Was gar nicht gehe, seien aber beleidigende Angriffe auf Behörden, diese müsse er entschieden zurückweisen. Die Wortwahl der Grünen Jugend sei inakzeptabel, sagte der Ministerpräsident.
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