STUTTGART. Die Protestbewegung gegen das Projekt Stuttgart 21 hat eine Galionsfigur verloren, viele Menschen einen Mitstreiter. Gangolf Stocker, Begründer der Bürgerinitiative Leben in Stuttgart – Kein Stuttgart 21 sowie früherer Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S 21, ist am Freitag in Stuttgart einer längeren, schweren Krankheit erlegen. Der geschiedene Mann, Vater von zwei erwachsenen Kindern, wurde 76.
Der Kampf gegen die Tiefbahnhofpläne hatte ihn gut zwei Jahrzehnte angetrieben, beansprucht und geprägt: vom Bekanntwerden der Projektpläne und der Gründung der Bürgerinitiative im Jahr 1995 bis zum Jahr 2016, als er sich plötzlich aus der Kommunalpolitik zurückzog. Da wurde wieder der private Kunstmaler Stocker aus dem öffentlichen Kämpfer und Wortführer gegen ein Projekt, dessen Betreiber sich von großen Teilen der Bevölkerung verabschiedet hatten. Über mehr als zwei Jahre hinweg war er sogar ganz, ganz oben gewesen. Da hatte Stocker den deutschen Medien als der größte und wichtigste S-21-Gegner gegolten.
Ganz eigene Lebenserfahrung
Das währte von 2009, dem Anschwellen der Bürger-Proteste, bis Sommer 2011, zum formalen Ende der Stuttgart-21-Schlichtung unter Heiner Geißler, deren heiße Phase im Herbst 2010 war. Warum er, Stocker? Der verhalten, manchmal fast wortfaul erscheinende Mann schien nicht dafür prädestiniert. Charisma strahlte er nicht unbedingt aus, wiewohl er sympathisch und gewinnend sein konnte. Eine glanzvolle Vita nach bildungsbürgerlicher Art hatte er nicht. Dafür eine ganz eigene Lebenserfahrung. Und die sagte ihm, dass hier etwas völlig falsch laufe.
Menschen machen nicht Geschichte, die Geschichte macht sich ihre Menschen? Wie auch immer, jedenfalls schien hier in einer besonderen Situation plötzlich etwas zusammenzupassen. Stocker fand und spielte eine wichtige Rolle – ließ aber auch wieder von ihr ab, als ihm zu viele Zweifel kamen. So zog er sich 2011 auch von den Montagsdemos zurück, die unter seiner Ägide über lange Zeit wahre Menschenmassen angezogen hatten und als deren Verantwortlicher er es auch mit der Justiz zu tun bekommen hatte.
Stocker stammte aus Baden, wo die deutsche Demokratie das Laufen lernte und die Menschen von jeher etwas widerständiger sein sollen, allemal widerständiger als in dem lange Zeit braven, pietistischen Stuttgart. Er kam aus einfachen Verhältnissen, wuchs in Offenburg neben dem Reichsbahn-Ausbesserungswerk auf und ist, wie er einmal sagte, den Zügen verfallen.
Er wurde Vermessungstechniker, vermaß aber schon bald andere Dinge, vor allem künstlerische und politische. Er entschied sich für das Dasein des Kunstmalers. Wegen Totalverweigerung von Wehr- und Ersatzdienst musste er 1967 nach Frankreich ausbüchsen und nach der Heimkehr 1968 eine Bewährungsstrafe hinnehmen. Da zeigte sich schon, dass er für seine Prinzipien auch Konflikte nicht scheute. Er kam nach Fellbach, arbeitete lange Zeit als Betriebsrat beim Stuttgarter Thieme-Verlag. Und bis 1995 eben auch als Maler. Als Maler wollte Stocker, anders als sonst im Leben, nicht politisch sein.
In den frühen Willy-Brandt-Kanzlerjahren gehörte er der SPD an, später der Deutschen Kommunistischen Partei, dann wollte er 1999 in Stuttgart mit der gleichnamigen Kommunalwahlliste »parteilos glücklich« werden, trat dann doch wieder der SED-Nachfolgepartei PDS bei – und nach Meinungsverschiedenheiten wieder aus. Da ging es auch um das von ihm mitbegründete Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS). Dafür kandidierte er zum Gemeinderat. Als er 2004 nicht gewählt wurde, arbeitete er dem ersten SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch zu. Bis er 2009 selbst Stadtrat wurde.
Bahnhofs-Sturm vertrat er nicht
Und natürlich arbeitete er in dem von ihm mitbegründeten Aktionsbündnis gegen S 21 mit. Dort zog er sich jedoch unvermittelt zurück, nachdem die Parkschützer im Frühjahr 2011 nach der Wahlniederlage von CDU-Ministerpräsident Mappus eine »Mappschiedsparty« zelebriert und die Zäune an der Bahnhofsbaustelle ins Visier genommen hatten. Den Bahnhofs-Sturm vertrat Stocker nicht. Sein Protest war auf einem anderen Gleis. Das Meinungsgemenge im Bündnis behagte ihm nicht. Die Parkschützer im Bündnis kritisierten ihn dafür als autoritär, rechthaberisch und unberechenbar.
Doch gerade darin, dass Stocker etwas machte, nachher Bilanz zog, aus Fehlern lernte und sich notfalls korrigierte, sieht Rockenbauch, die andere Galionsfigur eine Stärke seines »politischen Ziehvaters«. Er schätzte an Stocker die »Geradlinigkeit und den aufrechten Gang«, den »politischen Spürsinn« und auch die antikapitalistische, soziale und ökologische Grundhaltung. Ohne Stocker hätte man in Deutschland nicht die Debatten über den Unsinn derartiger Großprojekte geführt, so Rockenbauch. (GEA)