Der vom Russland-Ukraine-Krieg angeheizte Preisanstieg für Getreide verstärkt nach Einschätzung eines Landwirtschaftsexperten weltweite Ungleichgewichte. »Arme Länder, die stark auf Importe angewiesen sind, strapazieren ihre Finanzreserven zum Kauf von Getreide«, sagte der Agrarwissenschaftler Sebastian Hess von der Universität Stuttgart-Hohenheim der Deutschen Presse-Agentur.
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) wird am heutigen Freitag (11.00 Uhr) mit seinen Amtskolleginnen und Amtskollegen der großen Industriestaaten (G7) auf Schloss Hohenheim über die Kriegsfolgen beraten. Nach Regierungsangaben wird auch der ukrainische Ressortchef Mykola Solskyj teilnehmen, um über die Lage in seinem Land zu berichten. Zur Gruppe der G7 gehören neben Deutschland die USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan.
»Wir haben bei Getreide eine sehr angespannte Situation, die von großer Unsicherheit geprägt ist«, sagte Hess mit Blick auf die weltweiten Märkte. Zur Situation in der Ukraine sagte er: »Es wird versucht, Getreide aus der Ernte des vergangenen Sommers mit Eisenbahnzügen nach Westeuropa zu bringen, weil die Schwarzmeerhäfen blockiert sind.«
»Wir müssen damit rechnen, dass sich Brot, Brötchen und Baguette etwas verteuern. Aber das wird unsere Versorgungslage nicht bedrohen«, sagte Hess. Er warnte vor dem Anlegen unnötiger Vorräte - auch Staaten könnten versuchen, eine Hamsterstrategie zu betreiben. »Jeder Einzelne sollte vermeiden, Vorräte mit Mehl anzulegen, die man realistischerweise nie braucht«, riet Hess.
Mit Blick auf Befürchtungen, dass die neue Ernte in der Ukraine wegen des Krieges stark beeinträchtigt werden könnte, sagte Hess: »Bisher sieht es so aus, dass sich die schlimmsten Prognosen für das laufende Jahr nicht bewahrheiten. Das Getreide ist aber noch nicht reif und noch nicht geerntet.« Die vergangene Ernte sei sehr gut gewesen, ein erheblicher Teil davon sei noch eingelagert. »Die Versorgungslage in der Ukraine selbst darf nicht vergessen werden. Die Menschen dürfen nicht in eine Hungerkrise kommen«, warnte Hess.
Nach Ansicht des Direktors des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) in Deutschland, Martin Frick, liegt in der Konzentration auf drei Getreidesorten eine Gefahr für die weltweite Versorgungssicherheit. Weizen, Mais und Reis machten 40 Prozent der weltweit konsumierten Kalorien aus. Um diese Abhängigkeiten aufzulösen, brauche es unter anderem eine Rückbesinnung auf die Vielfalt von Nutzpflanzen, etwa Sorghum, Maniok oder Quinoa. Die vergessenen Pflanzen seien oft widerstandsfähiger gegen die Klimakrise und gesünder. »Mehr Vielfalt auf dem Teller hilft deshalb auch im Kampf gegen den Hunger«, sagte Frick.
Einen Ausbau der Nahrungsproduktion forderte die FDP-Fraktionsvize im Bundestag, Carina Konrad. »Der Knappheit an Agrarrohstoffen müssen wir mit Ertragssteigerung begegnen. Nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit«, sagte sie der dpa vor dem Treffen der G7-Agrarminister. »Für uns bedeutet der Krieg in der Ukraine höhere Lebensmittelpreise, für die Ärmsten der Welt jedoch dramatischen Hunger.« Pläne zur Ausweitung der Biolandwirtschaft mit ihrem Flächen- und Ressourcenverbrauch leisteten keinen Beitrag zur Lösung.
Die Welthungerhilfe warnte vor einem »noch drastischeren Anstieg« der Zahl der Hungernden. Um das zu verhindern, müssten die Agrarminister schnellstmöglich angemessene Akuthilfen auf den Weg bringen, sagte Welthungerhilfe-Vizepolitikchef Rafael Schneider der »Neuen Osnabrücker Zeitung«. Der Preisanstieg für Lebensmittel durch den Ukraine-Krieg treibe ansonsten die Zahl der Hungernden weiter in die Höhe. Derzeit litten weltweit 800 Millionen Menschen unter Hunger.
Grund sei nicht nur der Krieg, sondern es seien auch »Systemfehler«, die Özdemir und seine Kollegen dringend beheben müssten. Zudem dürften Maßnahmen gegen akute Versorgungsengpässe nicht auf Kosten des Umweltschutzes gehen. Die Welthungerhilfe kritisierte insbesondere den Plan Özdemirs, den Weizenanbau zu erleichtern, um den Ausfall der Einfuhren aus der Ukraine zu kompensieren.
Erklärung Deutscher Bauernverband zu dem Treffen, 11.5.
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