Die Öffentlichkeit muss sich nach Auskunft des Forensischen Psychiaters Stephan Bork von dem Gedanken lösen, dass Prognosegutachten von Sexualstraftätern eine Weissagung für die Zukunft sind. In Fällen, bei denen es nach der Haftentlassung zu erneuten Übergriffen komme, stehe oftmals die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung des Täters im Vordergrund. »Ein Teil der Therapie ist es, zu rekonstruieren und mit den Probanden zu klären, an welcher Stelle sie autonom eine Entscheidung in eine andere Richtung hätten treffen können, sollen und müssen«, sagte Bork, der an der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik in Tübingen tätig ist.
Bork ist auch Leiter der Gutachtenstelle der Klinik und der Forensisch-psychiatrischen Ambulanz. Er und sein Team therapieren unter anderem Sexualstraftäter und erstellen sogenannte Prognosegutachten vor der Entlassung.
Der im Fall der toten Schülerin aus dem südbadischen Gottenheim gefasste 29 Jahre alte Mann aus Hessen war bis Anfang des Jahres in einem Programm für rückfallgefährdete Sexualstraftäter. Er war als Jugendlicher für zehn Jahre wegen eines versuchten Sexualdelikts in ein psychiatrisches Krankenhaus gekommen. Der Verdächtige bestritt zunächst die Vorwürfe und schweigt nun. Diese lauten: Entziehung Minderjähriger, sexuelle Nötigung und Mord in Verdeckungsabsicht.
Ein Prognosegutachten sei ein Risikomanagement-Instrument, das versucht, zu ergründen, welche Risikofaktoren und welche Schutzfaktoren bei den Probanden bestehen, sagte Bork. Die Gutachten bescheinigten den jeweiligen Betroffenen ein hohes, mittleres oder niedriges Risiko, eine Straftat zu begehen. Zur Kritik in der Öffentlichkeit, wenn es zu Übergriffen nach der Haftentlassung trotz eines günstigen Gutachtens kommt, sagte Bork: »Das ist so, wie wenn die Wettervorhersage sagt, wir haben 20 Prozent Regenwahrscheinlichkeit morgen. Dann sagen Sie ja auch nicht, die Wettervorhersage ist falsch, wenn es dann nicht regnet.«
Die wenigsten Sexualstraftäter, die eine pädophile Ausrichtung haben, wollen nach Auskunft von Bork eine Straftat begehen. »Es ist nicht so, dass die Leute draußen rumlaufen und sagen «Jetzt möchte ich aber echt mal wieder eine schlimme Sexualstraftat begehen».«
In der jeweiligen Therapie geht es laut Bork darum, die von Pädophilie Betroffenen in einen Zustand zu versetzen, dass sie mit ihren pädophilen Bedürfnissen eigenverantwortlich so umgehen können, dass niemand anders zu Schaden komme. »Das ist ja das Behandlungsziel. Man kriegt ja die Pädophilie nicht weg. Das ist eine tief in der Persönlichkeit sitzende sexuelle Orientierung so wie Heterosexualität oder Homosexualität oder Bisexualität.« Generell seien Straftaten durch Therapien nicht verhinderbar, sagte Bork. »In manchen Situationen lässt sich aber durch Therapie die Auftrittswahrscheinlichkeit reduzieren. Eine durch Behandlung verhinderte Sexualstraftat hat aber keinen Nachrichtenwert.«
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