STUTTGART. Ältere erinnern sich vielleicht: an von Insekten verklebte Autofenster, an ein geschäftiges Summen und Brummen in knallbunten Wiesen. Alles so gut wie vorbei, warnen Vogelkundler und Insektenforscher und legen als Beleg eine neue Studie von der Schwäbischen Alb vor. Wissenschaftliche Zählungen hätten mit Blick auf die vergangenen 50 Jahre einen Rückgang der sogenannten wandernden Insekten auf der Schwäbischen Alb um bis zu 97 Prozent ergeben, sagte der Leiter der Forschungsstation Randecker Maar, Wulf Gatter, am Donnerstag.
»Was wir heute noch sehen, ist niederschmetternd«, sagte der Naturforscher weiter. Vor mehreren Jahrzehnten habe die Luft noch von Tausenden ziehender Schwebfliegen geflimmert. Heute dagegen lohne es sich nicht mehr, Fangreusen für Insekten aufzustellen.
Zuletzt hatte eine Studie des Entomologischen Vereins Krefeld (EVK) 2017 weltweit Aufsehen erregt. Nach dieser hat die Gesamtmasse der Fluginsekten in Teilen des Rheinlands in den vergangenen drei Jahrzehnten um mehr als 75 Prozent abgenommen. »Durch unsere Untersuchungen am Randecker Maar, die 20 Jahre früher begannen, wird dieses erschreckende Ergebnis nicht nur bestätigt, sondern leider weit übertroffen«, sagte Gatter.
Von einem ähnlichen Rückgang wie bei den Schwebfliegen seien auch die Waffenfliegen und Schlupfwespen betroffen. Das Ergebnis der Studie spiegele keineswegs nur die Insektenwelt rund um das Randecker Maar wider, sondern sei ein großräumiges Phänomen.
Lars Krogmann, Entomologe vom Naturkundemuseum in Stuttgart, warnte davor, die Folgen dieses Sterbens zu unterschätzen: »Je mehr Arten verschwinden, desto mehr gerät das Ökosystem aus den Fugen. Diese Bedrohung ist allgegenwärtig, sie ist permanent, und sie geht weiter zurück, als wir uns bewusst sein mögen.« Die jüngste Studie verstärke alle bisherigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Rückgang der Insekten. Der Rückgang von Schlupfwespen, die sich parasitisch in anderen Insekten entwickeln, müsse alarmieren. »Wenn die Wirtsinsekten im Bestand zurückgehen, dann sterben auch ihre Gegenspieler mit unabsehbaren Folgen für unsere Ökosysteme.«
Für die Studie zum Randecker Maar zählten ehrenamtliche Vogelkundler unter anderem seit 1970 viermal stündlich je eine Minute die südwärts ziehenden Schwebfliegen, deren Larven sich von Blattläusen und weiteren kleinen Insekten und Milben ernähren. »Der Vergleich der ersten fünf Jahre ab 1970 mit den Werten der Jahre zwischen 2014 und 2019 zeigt bei der größten und artenreichsten Gruppe einen Rückgang um 97 Prozent gegenüber den Ausgangswerten«, sagte Gatter. Bei den Waffenfliegen und Schlupfwespen liege der Rückgang im Zeitraum von 35 bis 40 Jahren bei 84 sowie 86 Prozent.
Als Ursachen für den Trend gelten die industrielle Landwirtschaft, Pflanzenschutzmittel, die zunehmende Überdüngung und die Versiegelung, also der Flächenverbrauch durch neue Siedlungen, neue Gewerbegebiete und Straßen.
Enttäuscht äußerte sich Gatter über das neue baden-württembergische Artenschutzgesetz, nach dem der Einsatz chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel bis 2030 um 40 bis 50 Prozent zurückgefahren werden soll. »Das ist nur ein sehr kleiner Fleck«, sagte Gatter. »Bei der heutigen Entwicklung sehe ich keine großen Fortschritte.« Kostspielige Blühstreifen-Programme des Landes oder Blühpatenschaften greifen nach Ansicht Krogmanns zudem viel zu kurz. Beim Säen würden die falschen Blühmischungen als Insektenfutter benutzt, außerdem zielten sie auf Vollinsekten ab und nicht auf deren ebenfalls bedrohte Larven. Sogenannte Blühpatenschaften seien zudem zeitlich befristet und wenig hilfreich.
Der naturschutzpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Markus Rösler, nannte das Ergebnis der Studie »einen katastrophalen Spiegel unseres menschlichen Umganges mit der Natur«. Er forderte, das Monitoring dauerhaft im Haushalt abzusichern und den Naturschutzetat von derzeit 90 auf 150 Millionen Euro pro Jahr zu erhöhen. Für den Naturschutzbund Deutschland mahnte dessen Artenschutzreferent Martin Klatt: »Die Ergebnisse müssen uns als Gesellschaft wachrütteln.« Das Land müsse seine Agrarförderprogramme ökologisch noch effektiver gestalten, forderte er.
Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) reichte die Kritik weiter an Berlin und Brüssel: »Wir sind auch auf die Unterstützung des Bundes und der EU angewiesen«, sagte er. Die Förderung müsse an ökologische Standards ausgerichtet und Landwirte für ökologisches Wirtschaften belohnt werden. »Nur so können wir erhalten, was uns am Leben hält.«, sagte Untersteller. »Mit den Wespen und Hummeln können wir nicht verhandeln, sie sind von unseren Entscheidungen abhängig.«
Das Randecker Maar ist ein ehemaliger Vulkanschlot der Schwäbischen Alb und gehört zur Gemeinde Bissingen (Kreis Esslingen). Der nach Norden gerichtete Trichtereffekt des Maars führt dazu, dass auf einer Breite von über sechs Kilometern Vögel und Insekten aus nördlichen Richtungen von rund 300 Meter Höhe im Vorland auf etwa 800 Meter Höhe hinauf fliegen und im Anflug sowie beim Durch- und Überflug des Maars erfasst werden können. Schwebfliegen gehören neben den Wildbienen zur wichtigsten Bestäubergruppe der Insekten. (dpa)