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Ein Aderlass: Kirche verliert so viele Mitglieder wie nie

Es war absehbar, dass die Austrittszahlen für das Jahr 2022 ein Desaster für die katholische Kirche werden würden. Doch es kommt noch schlimmer als befürchtet. Von einem »quälenden Tod« ist die Rede. Freiburgs Erzbischof weiß genau, woran das in seiner Kirche liegt.

Christliche Kirche
Licht wirft den Schatten eines Kreuzes durch ein Kirchenfenster. Foto: Nicolas Armer/DPA
Licht wirft den Schatten eines Kreuzes durch ein Kirchenfenster.
Foto: Nicolas Armer/DPA

Der Aderlass in der katholischen Kirche in Baden-Württemberg bleibt gewaltig. Im vergangenen Jahr sind mehr als 81.500 Menschen aus der Kirche im Südwesten ausgetreten, wie die Deutsche Bischofskonferenz am Mittwoch in Bonn mitteilte. Das sind so viele wie noch nie.

In der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der drittgrößten in Deutschland nach Köln und Münster, kehrten 39.736 Christen der Kirche den Rücken, ein Anstieg um 41 Prozent im Vergleich zum Jahr davor. Insgesamt gehören dort noch 1,66 Millionen Menschen zur Kirche. Die Zahlen aus dem Erzbistum Freiburg übertreffen dies noch: Dort traten im vergangenen Jahr laut Mitteilung 41.802 Menschen aus der Kirche aus. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 waren es bereits 30.043, im Jahr davor 19.665 Menschen. Etwa 1,65 Millionen Katholiken leben noch im viertgrößten Bistum Deutschlands.

Freiburgs Erzbischof Stephan Burger sieht in den Zahlen eine klare Botschaft für die Kirche: »Die individuellen Gründe mögen zwar verschieden sein. In der Summe halten uns die Menschen, die austreten, jedoch einen Spiegel vor«, sagte er. Die verheerenden Zahlen seien zu einem großen Teil die Quittung für die Verbrechen des Missbrauchs und für den Vertrauensverlust. Außerdem zeigten sie, dass die Kirche nicht mehr alle Menschen erreiche mit ihrer Botschaft und den Angeboten.

Das Erzbistum wird seit längerer Zeit von einem Missbrauchskandal erschüttert. In einem Bericht rechnete eine unabhängige Kommission insbesondere mit Burgers Amtsvorgänger Robert Zollitsch gnadenlos ab. Dessen Amtszeit bis 2013 sei durch »konkretes Vertuschungsverhalten« geprägt gewesen. Der 84-Jährige hat keine Ämter mehr. Seit der Veröffentlichung des Berichts ist er weitgehend isoliert - er lebt aber weiter im Bistum.

Erschüttert, aber auch ein wenig hoffnungsvoll äußerte sich der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst. Er nehme die Entwicklung »mit Schmerzen« zur Kenntnis, teilte seine Diözese mit. Die hohen Austrittszahlen seien eine »bittere Realität«. Sie müssten als Aufforderung verstanden werden, neue Ideen zu entwickeln und gegenzusteuern. Die Ortskirche in Württemberg sei hier seit Jahren auf dem richtigen Weg, zeigte sich Fürst überzeugt.

In Deutschland ist noch etwa jeder Vierte der Gesamtbevölkerung ein Katholik. Laut Bischofskonferenz verließen 2022 insgesamt 522.821 Menschen in Deutschland die katholische Kirche. Das waren noch einmal deutlich mehr als im bisherigen Rekordjahr 2021 mit 359.338 Austritten.

Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, zeigte sich wegen der Zahlen »traurig, aber wenig überrascht«. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, nannte die Werte »alarmierend«. »Wir können und wollen die Augen nicht vor dieser Entwicklung verschließen«, sagte er als Bischof von Limburg, betonte aber auch: »Wir müssen weiter konsequent handeln und die Menschen müssen erfahren, dass wir an ihrer Seite stehen und für sie da sind.«

Dass sich die für die katholische Kirche ohnehin dramatische Entwicklung noch einmal beschleunigen würde, hatte sich zu Jahresbeginn 2022 abgezeichnet. Neben den Vorwürfen in Freiburg ließen auch die Vorstellung eines Gutachtens zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising im Januar und die Diskussion um eine Mitschuld des inzwischen gestorbenen Papstes Benedikt XVI. die Austrittszahlen förmlich explodieren.

Schlagzeilen machten im vergangenen Jahr auch Lügen-Vorwürfe gegen den umstrittenen Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, bei dem es erst an diesem Dienstag eine Razzia gab, und Rechtsstreits um Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer in Köln und im oberbayerischen Traunstein.

»Die katholische Kirche stirbt einen quälenden Tod vor den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit«, sagte Kirchenrechtler Thomas Schüller der Deutschen Presse-Agentur. Er warnte aber auch vor den Folgen nicht nur für die Kirche, sondern auch für die Gesellschaft: »Diese Austrittszahlen betreffen nicht nur die Kirche selbst«, betonte er. »Schon sehr bald wird denen, die vielleicht mit innerer Freude die Erosion der katholischen Kirche hämisch betrachten, bewusst werden, dass viel lieb gewonnene kirchliche Aktivitäten verschwinden werden: Schulen, Kindertagesstätten, Akademien, soziale Einrichtungen.«

Denn weniger Mitglieder, das bedeutet zunächst einmal weniger Kirchensteuereinnahmen und damit weniger Geld für die Bistümer - aber in zweiter Linie stellt sich dann auch die Frage, welche Bedeutung und welchen Einfluss die Institution noch hat. Zumal die Austrittswelle nicht nur in der katholischen Kirche immer schneller rollt. Auch die evangelische Kirche hat nicht nur in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr deutlich Mitglieder verloren. Neben Kirchenaustritten sind Todesfälle Gründe für den Rückgang. Taufen, Eintritte und Wiederaufnahmen können dies bei Katholiken und Protestanten nicht ausgleichen.

Mitteilung aus Rottenburg

Mitteilung aus Freiburg

© dpa-infocom, dpa:230628-99-214419/5