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Die Parteien stellen für die OB-Wahl in Stuttgart kaum Migranten auf

Obwohl beinahe jeder zweite Stuttgarter eine Migrationsgeschichte hat, ist kaum einer unter den Kandidaten.

Schilderwald zur Stuttgarter OB-Wahl: 14 Kandidaten, darunter lediglich zwei Frauen – und sogar nur ein Bewerber mit Migrations
Schilderwald zur Stuttgarter OB-Wahl: 14 Kandidaten, darunter lediglich zwei Frauen – und sogar nur ein Bewerber mit Migrationsgeschichte. FOTO: IMAGO IMAGES/HETTRICH
Schilderwald zur Stuttgarter OB-Wahl: 14 Kandidaten, darunter lediglich zwei Frauen – und sogar nur ein Bewerber mit Migrationsgeschichte. FOTO: IMAGO IMAGES/HETTRICH

STUTTGART. Muhterem Aras oder Cem Özdemir machen’s – das galt manchem als sicher zu Jahresbeginn. Die Grünen suchten einen möglichen Nachfolger für Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn. Als Favoriten galten die beiden bekannten Parteiangehörigen mit Wurzeln in der Türkei. Doch sowohl der Bundestagsabgeordnete als auch die Landtagspräsidentin winkten ab.

So tritt Veronika Kienzle für die Grünen an – die in der Stadt gut vernetzte Vorsteherin des Bezirks Mitte. Als eine von nur zwei Frauen unter den 14 Kandidaten und Kandidatinnen. Das steht im krassen Missverhältnis zum weiblichen Anteil an der Bevölkerung. Doch Frauen sind nicht die einzige unterrepräsentierte Gruppe: Wenn man den in Brasilien geborenen Werner Ressdorf nicht mitzählt, gibt es im Feld nur einen Bewerber mit Migrationsgeschichte – und das, obwohl diese Gruppe inzwischen 45 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung ausmacht.

»Das ist einer meiner Motivationspunkte«, sagt Issam Abdul-Karim. Der 50-Jährige ist im Libanon zur Welt gekommen und lebt seit 43 Jahren in Stuttgart. »Wenn man durch die Stadt geht, sieht es da ganz anders aus als auf dem Wahlzettel«, sagt der Gastro- und Eventmanager. Der Einzelbewerber hat so seine Erfahrungen im Wahlkampf gemacht. »Wenn man einen Migrationshintergrund hat, ist es schwierig, zu kandidieren. Man braucht ein dickes Fell«, sagt er, spricht von Verleumdungen und verweist auf einen Farbanschlag auf seine Hauswand. Er habe den Eindruck, es gebe viel Lob für Migranten, die sich engagieren, »aber wenn es ernsthaft um die Besetzung von wichtigen Posten geht, wird’s schnell dünn«. Er will allerdings auch die Bürger mit ausländischen Wurzeln nicht aus der Verantwortung lassen. »Viele Migranten trauen sich nicht, aber man muss Verantwortung übernehmen und zeigen, dass man angekommen ist«, sagt Abdul-Karim mit Nachdruck.

Dass das mit dem Verantwortungübernehmen nicht so einfach ist, weiß Kerim Arpad vom Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart: »Die Parteien sind generell schlecht aufgestellt, was den Migrantenanteil betrifft. Das sieht man schon bei den Listen für den Gemeinderat.« Zwar seien alle an dieser Gruppe interessiert und wollten sie erreichen, konkret passiere aber meist nicht viel außer Arbeitskreisen. Auch deshalb sei es eine Herausforderung, Migranten überhaupt für Kommunalpolitik zu begeistern.

Wählen und als OB-Bewerber antreten dürfen alle mit deutschem Pass und Bürger der Europäischen Union. Das ist in Stuttgart ein großes Potenzial: Knapp 30 Prozent der 450 000 Wahlberechtigten sind eingebürgerte Migranten und EU-Bürger. Allerdings sind sie nicht besonders wahlfreudig. »Ich hoffe, dass diesmal mehr von ihnen an die Urnen gehen als in der Vergangenheit«, sagt Gari Pavkovic, Leiter der Abteilung Integrationspolitik bei der Stadt. Die Eingebürgerten und noch mehr die Unionsbürger wiesen regelmäßig eine weit unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung auf.

Woran das liegt? Pavkovic sieht da nicht nur ein Versäumnis der Politik: »Die Leute haben noch nicht erkannt, dass es auf dieser Ebene anders als in ihren Herkunftsländern einen großen Gestaltungsspielraum gibt«, sagt er. Es fehlten allerdings auch die Vorbilder. »Daraus folgt eine gewisse defensive Grundhaltung. Die muss man überwinden, aber das geht nur langsam«, so Pavkovic.

Soll eine Quote her?

Dass Stuttgart mit seiner OB-Bewerber-Liste keine Ausnahme ist, betont Deniz Nergiz. Als Geschäftsführerin des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates (BZI) setzt sie sich für die politische Teilhabe von Migranten ein. »Nur 5 von 335 Städten in Deutschland haben ein Stadtoberhaupt mit Migrationshintergrund«, weiß Nergiz aus einer aktuellen Studie. Ein Anteil von 1,5 Prozent. Auch in den Gemeinderäten und Landesparlamenten liege der durchschnittliche Migrantenanteil im unteren einstelligen Prozentbereich.

Könnte eine Art Migranten-Quote für politische Gremien helfen, wie sie manche fordern? Nergiz sieht sie skeptisch, viele Migranten, die sie befragt hat, würden die Idee ablehnen. Außerdem sei die Gruppe zu heterogen. »Über welche Migranten und Migrantinnen reden wir, geht es um Türkeistämmige, Asiaten und Arabischstämmige, um Inder. Und was ist mit schwarzen Deutschen oder Sinti und Roma?«, fragt Nergiz. Für aussichtsreicher hält sie eine Einführung des kommunalen Wahlrechts für Bürgerinnen und Bürger mit nichtdeutschem Pass, weil diese Gruppe erst dann das nötige politische Gewicht bekomme, das ihr zustehe. »Sobald sich das Profil der Wählerschaft ändert, werden Parteien darauf reagieren müssen«, sagt Nergiz. (GEA)