Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ausgerechnet der Energiekonzern, der sich seit Jahren dem Ausbau der Erneuerbaren verschrieben hat, produziert bis zur wortwörtlich letzten Minute Atomstrom. Um 23.59 Uhr am Samstag ist das Atomkraftwerk (AKW) Neckarwestheim 2 der EnBW als letzter Meiler in Deutschland vom Netz gegangen. Das Thema Kernkraft ist damit aber noch lange nicht vorbei.
»Der Abschaltvorgang verlief technisch wie geplant und ohne Besonderheiten«, teilte EnBW in der Nacht mit. Damit endete die Produktion von Atomstrom in Baden-Württemberg nach fast 55 Jahren.
Ebenfalls am Samstag wurden das AKW Isar 2 in Bayern um 23.52 Uhr und das AKW Emsland in Niedersachsen um 22.37 Uhr vom Netz getrennt. Damit hat Deutschland den seit der Nuklearkatastrophe von Fukushima (Japan) im Jahr 2011 geplanten Ausstieg aus der Atomkraft vollzogen.
Kernkraftgegner feierten den Tag: Mehrere Hundert Menschen kamen am Samstag zu einem »Abschaltfest« nach Neckarwestheim. Sie hatten Transparente mit Aufschriften wie »Endlich ist Schluss« dabei.
Endlagerfrage weiter offen
Erledigt sind damit aber weder das Thema Atom an sich noch die Folgen des Ausstiegs. So hatte Landesumweltministerin Thekla Walker (Grüne) jüngst noch einmal erklärt, die Herausforderung sei, »wie wir riesige Mengen von Atommüll sicher endlagern«. Das werde Deutschland länger beschäftigen als die Atomkraftwerke in Betrieb gewesen seien.
Der Netzbetreiber TransnetBW machte deutlich, welche Folgen das Abschalten für Netzstabilität und Versorgungssicherheit habe: Da die Übertragungskapazitäten vom Norden Deutschlands, wo vor allem mit Windkraft Strom erzeugt wird, in den Süden noch nicht ausreichend ausgebaut sind, steigt einer Sprecherin zufolge der Bedarf an Ausgleichsmaßnahmen aus dem Ausland und aus Reservekraftwerken. »Die Strom-Importabhängigkeit von Baden-Württemberg nimmt weiter zu.« Zusätzlich sinke der Anteil an gesicherter Leistung zur Lastdeckung.
Fließt weiter Atomstrom durch deutsche Netze?
In einer Bedarfsanalyse für den kommenden Winter kalkulieren die vier Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland auch Strom aus französischen Kernkraftwerken mit ein. »Selbst wenn die Mengen von ausländischem Atomstrom-Import sehr gering sind, müssen wir mit großer Anstrengung daran arbeiten, dass wir uns von Atomstrom zu 100 Prozent unabhängig machen«, erklärte der Chef der Grünen-Landtagsfraktion, Andreas Schwarz. Daher hätten der Ausbau von Sonnen- und Windkraft, Biomasse, Wasserkraft und Geothermie oberste Priorität. Baden-Württemberg gehe etwa mit einem Klimaschutzsofortprogramm und einer Taskforce zum schnelleren Ausbau der Windkraft mit großen Schritten voran.
Die Opposition sieht das naturgemäß anders. SPD-Umweltexpertin Gabi Rolland monierte: »Baden-Württemberg hat trotz grüner Regierungsspitze beim Ausbau erneuerbarer Energien, gerade beim Hochlauf der Windkraft, viel nachzuholen. Und wir im Süden Deutschlands müssen noch mehr für die Übertragungskapazitäten tun.«
Mit einer jährlichen Produktion von im Schnitt rund elf Milliarden Kilowattstunden hatte Neckarwestheim 2 nach EnBW-Angaben etwa ein Sechstel des Strombedarfs in Baden-Württemberg gedeckt. Der Meiler im Landkreis Heilbronn war 1989 als jüngstes deutsches AKW ans Netz gegangen und produzierte rund 375 Milliarden Kilowattstunden Strom. Allein im sogenannten Streckbetrieb in diesem Jahr seien es über 1,9 Milliarden gewesen, teilte EnBW mit - mehr als erwartet. Mit einer Kilowattstunde Strom kann man zum Beispiel eine Stunde staubsaugen.
Alle Zeichen stehen auf Rückbau
Nun stehe auch in der fünften und letzten Anlage des Karlsruher Konzerns der Rückbau im Mittelpunkt, wurde der Geschäftsführer der Kernkraftsparte, Jörg Michels, zitiert. Rund 650 EnBW-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiten demnach am Standort Neckarwestheim.
Schon seit ein paar Tagen liegt die vollständige Genehmigung für den Rückbau vom Umweltministerium vor. Weil die Laufzeit der letzten drei AKW aber infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine über den Jahreswechsel hinaus verlängert worden war und zum Beispiel neue Verträge mit Drittfirmen nötig wurden, verschiebt sich alles um mindestens drei Monate, hatte Michels kürzlich erläutert.
Wenn mit dem Abbau begonnen werden kann, sollen zuerst die 193 Brennelemente aus dem Reaktordruckbehälter entfernt und in das benachbarte Lagerbecken überführt werden. Mit der Zeit werden dann etwa die nuklearen Systeme dekontaminiert, Hauptkühlmittelleitungen demontiert und Einbauten des Reaktordruckbehälters zerlegt. Alles in allem soll der nukleare Rückbau in 10 bis 15 Jahren abgeschlossen sein. Dann stehen beispielsweise noch Gebäude auf dem Gelände. Was damit geschehen soll, steht laut Michels noch nicht fest.
Der drittgrößte Energieversorger Deutschlands schließt mit der Abschaltung allmählich das Kapitel Atomkraft ab - was ganz im Sinne der Firmenphilosophie ist: Der einstige Atomstromer EnBW hat sein Geschäftsmodell in den vergangenen Jahren umgekrempelt und baut seither die Stromerzeugung über erneuerbare Energien aus. Angesichts von Debatten über einen möglichen Wiedereinstieg in die Kernkraft hatte Michels vor kurzem noch einmal betont: »EnBW diskutiert nicht über Atomausstieg, sondern hält am Masterplan für den Rückbau fest.«
Vor Ort bedeutet der Ausstieg: Sparen
Für die Gemeinde Neckarwestheim mit rund 4200 Einwohnerinnen und Einwohnern bedeutet der Atomausstieg, dass der Gürtel nun enger geschnallt werden muss. Fünf bis zehn Millionen Euro Gewerbesteuer sprudelten nach Angaben von Bürgermeister Jochen Winkler (parteilos) jedes Jahr in die Kasse - vorwiegend durch das AKW.
Mit dem Geld leistete sich die Kommune etwa gut ausgestattete Kindergärten, ein Jugendhaus sowie die Reblandhalle als großes Kulturzentrum und Veranstaltungslocation. Die Gemeinde kaufte sogar Schloss Liebenstein. Hinzu kam ein 27-Loch-Golfplatz. Seit klar ist, dass diese Steuerquelle versiegt, werden Sparmöglichkeiten gesucht.
Infos über AKW Neckarwestheim 2
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