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Chemie- und Pharmabranche: Fragezeichen hinter Standort

Die Pharmabranche im Südwesten bezeichnet sich gerne als »Apotheke Deutschlands«. Aber auch viele Betriebe anderer Sparten haben hier ihren Sitz. Nur wie lange noch?

Chemie- und Pharmaindustrie
Gelbe Rohre, die zum einen Erdgas führen, zum anderen Wasserstoff, sind in einer Industrieanlage der Firma Evonik montiert. Foto: Philipp von Ditfurth
Gelbe Rohre, die zum einen Erdgas führen, zum anderen Wasserstoff, sind in einer Industrieanlage der Firma Evonik montiert.
Foto: Philipp von Ditfurth

Wegen hoher Energiekosten und viel Bürokratie in Deutschland und größeren Marktchancen im Ausland droht die Chemie- und Pharmabranche in Baden-Württemberg mit Abwanderung. »Das stellt den Standort Deutschland infrage«, sagte der Vorsitzende des Verbandes der Chemischen Industrie Baden-Württemberg, Martin Haag, am Dienstag. Das Tempo, in dem die Politik in Bund und Land die Rahmenbedingungen ändere, sei zu langsam. Zwar gebe es kein Ultimatum - aber die Abwanderung sei ein schleichender Prozess, sagte Haag. »Und wir müssen den schleichenden Prozess stoppen.«

Entscheidend sei eine gute Versorgung von zunehmend grüner Energie und Wasserstoff. »Die Industrie folgt in der Summe der Energie«, sagte Haag mit Blick auf Preise und Verfügbarkeit. Wenn die Branche bis 2025 auf Strom umstellen solle, um treibhausneutral zu werden, brauche sie mehr als 500 Terawattstunden im Jahr. Das sei so viel wie derzeit ganz Deutschland verbrauche. Er sehe die Bemühungen von Bundes- und Landesregierung, den Ausbau zu beschleunigen. »Aber das reicht nicht.« Auch bei der Versorgung mit Wasserstoff dürfe Baden-Württemberg nicht abgehängt werden.

Für dieses Jahr erwarten knapp 15 Prozent der Chemie-, Pharma- und Lackunternehmen im Südwesten einer Umfrage zufolge einen Umsatzrückgang. Ein Viertel gehe von einem Produktionsrückgang aus. Dabei sei diese schon auf das Niveau von 2015 gesunken. Jedes fünfte Unternehmen erwartet demnach einem Abbau von Arbeitsplätzen. Wegen der Preisexplosion bei Rohstoffen und Energie rechneten 42 Prozent der Betriebe mit Ertragsrückgängen. Knapp ein Drittel wolle Investitionen zurückfahren. Haag sprach von einem »Alarmzeichen«, weil der Wandel in der Branche nur mit Investitionen gelinge.

Diese verzeichnete nach Angaben des Statistischen Landesamtes im vergangenen Jahr beim Umsatz ein Plus von zwei Prozent auf 26,2 Milliarden Euro. Das Inlandsgeschäft wuchs dabei um 3,8 Prozent auf 11 Milliarden Euro stärker als jenes im Ausland (plus 0,7 Prozent auf 15,2 Milliarden Euro). Die Zahlen berücksichtigen nur einen Teil der Branche - zum Beispiel nur Unternehmen ab 50 Beschäftigten. Die kleineren Betriebe miteingerechnet summierte sich der Jahresumsatz auf rund 43 Milliarden Euro.

Der Gesamtanstieg liegt deutlich unter dem bundesweiten in der Chemie- und Pharmabranche von rund 16 Prozent und jenem im verarbeitenden Gewerbe im Südwesten von 10,9 Prozent, wie die Vereinigung Chemie BW mitteilte. Haag erklärte das unter anderem mit dem starken Pharmaanteil im Südwesten von 40 Prozent. Dank dieses Segments sei die Branche vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Das Ergebnis seien nun schwächere Steigerungsraten. Auch für 2023 sei nur ein schwaches Wachstum zu erwarten.

Weitere große Teilbranchen im Südwesten sind Lacke, Farben und Bautenschutz (13 Prozent) sowie Körperpflege und Waschmittel (9 Prozent). Insgesamt beschäftigen die 477 Mitgliedsunternehmen rund 103.500 Menschen. Nach einer coronabedingten Delle stieg die Zahl neuer Ausbildungsplätze um knapp 14 Prozent auf mehr als 1000.

Der eigene Nachwuchs sei das wichtigste Mittel gegen Fachkräftemangel, sagte Christjan Knudsen, stellvertretender Vorsitzender der baden-württembergischen Chemie-Arbeitgeber. Zugleich forderte er einen einfacheren Zugang für ausländische Fachkräfte und flexiblere Möglichkeiten in den gesetzlichen Arbeitsregelungen.

Auch bürokratische Anforderungen wie Nachweispflichten müssten dringend abgebaut werden, mahnten die Verbände. Diese seien schon für große Unternehmen nur schwer zu bewältigen. Doch Baden-Württemberg sei ein Mittelstandsland - das gelte besonders für die Chemie- und Pharmabranche. »80 Prozent unserer Unternehmen haben weniger als 300 Mitarbeitende«, erklärte Knudsen. Diese hätten deutlich mehr mit Bürokratie sowie steigenden Energie- und Rohstoffpreisen zu kämpfen. Haag appellierte daher an die Landesregierung, in Berlin mehr Einfluss zu nehmen.

Wirtschaftsdaten der Chemieverbände

Infos über Verband der Chemischen Industrie

© dpa-infocom, dpa:230213-99-582063/4