STUTTGART. Ihren Vater trägt Maja T. immer bei sich – in ihrem Geldbeutel steckt sein Foto. Aufgenommen bei ihrem Abiball. An dem Abend war die Familie beisammen: ihre Eltern, ihre zwei älteren Brüder, die schon nicht mehr zu Hause wohnten. Ihr Vater habe glücklich gewirkt. Sie tanzten zusammen. Sie lachten zusammen. Ihr Abiball zählt zu den schönen letzten Erinnerungen.
Dabei war Wolfgang T., der wie seine Tochter eigentlich anders heißt, da bereits krankgeschrieben. Doch wie schlecht es ihm ging, das habe er für sich behalten, erzählt die Stuttgarter Studentin. Wochen später, im Sommer, öffnete er sich schließlich gegenüber seiner Schwester. Sie brachte ihn dazu, wegen der Depression in eine Klinik zu gehen. Bei der Aufnahme muss man in einem Formular ankreuzen, ob man suizidale Gedanken hat oder nicht. Wolfgang T. kreuzte nein an – und kam auf eine offene Station. Am 14. September 2014 brach er zu einem Ausflug mit dem Rad auf. Er kehrte nicht zurück. Tags drauf fanden ihn Rettungskräfte.
Angehörige quälen viele Fragen
Ungefähr 10 000 Menschen begehen jedes Jahr in Deutschland einen Suizid. Für die Angehörigen sei die Situation doppelt schwer, sagt die Sozialarbeiterin und Trauerbegleiterin Christa Wenzelburger vom Arbeitskreis Leben Stuttgart (AKL). Der gemeinnützige Verein unterstützt Menschen in Suizidgefahr, deren Angehörige sowie trauernde Hinterbliebene nach einem Suizid. Letzteren würde meist mit weniger Verständnis begegnet, sagt Wenzelburger. Auch die polizeilichen Ermittlungen seien belastend. Oft plagten Angehörige starke Selbstzweifel: Warum konnten wir sie oder ihn nicht halten? »Sie müssen mit vielen offenen Fragen leben«, sagt Wenzelburger.
Warum hat ihr Vater in der Klinik das Kreuz so gesetzt? Das ist so eine Frage, die Maja T. gequält hat. Hatte er da schon vor, sich umzubringen? Inzwischen kann die 25-Jährige damit umgehen. »Es war seine Entscheidung, ich komme inzwischen überwiegend damit klar«, sagt sie. Auch Wut packe sie nur noch selten. Und wenn, dann sei das okay. Sie weiß, sie geht auch wieder weg.
Aber es habe Jahre gedauert, bis sie so weit war, den Suizid ihres Vaters akzeptieren zu können. Es hat auch gedauert, bis sie die Fotoalben durchsehen konnte, die ihren Vater mitten im Leben zeigen. Im Italienurlaub. Auf dem Motorrad. Sie sind oft gemeinsam gefahren, sie hinten, er vorne. So ging es über die Landstraßen. »Er war immer zu Scherzen aufgelegt«, sagt sie. Sei gesellig, humorvoll, sehr liebevoll gewesen – und sehr gläubig. Er leitete Bibelgruppen, war Kommunionhelfer. Wie konnte Gott das zulassen? Dass sich ihr Vater, der ihm so treu gedient hat, das Leben nimmt? Das ließ sie am Glauben zweifeln. Von ihrer Mutter weiß Maja T. inzwischen, dass ihr Vater schon lange mit Depressionen zu kämpfen hatte, schon mit Ende 20. Dass die beiden entschieden hätten, das Thema von ihren damals noch kleinen drei Kindern fernzuhalten. Dass er einmal nicht »in der Kur« war, sondern in einer Klinik. Dass er viele Jahre Medikamente nahm – bis er Anfang 2014 beschloss, die Antidepressiva abzusetzen, weil er angenommen habe, sie nicht mehr zu brauchen.
Zerreißprobe für viele Familien
Für viele Familien sei die Situation nach dem Suizid eine Zerreißprobe, sagt Christa Wenzelburger. Maja T.s Familie hat es geschafft, diese gut zu bewältigen. Ein Schlüssel ihres Zusammenhalts: Keiner habe dem anderen Vorwürfe gemacht hat. »Jeder von uns wusste, das ist eine Krankheit, die kann zum Tod führen, wir sind damit sehr ehrlich und offen umgegangen«, sagt sie. Statt den Todestag im September gemeinsam zu begehen, kommen Freunde und Familie im April zusammen, an Wolfgang T.s Geburtstag. »Weil es schön ist, das er geboren wurde«, sagt seine Tochter.
Rund vier Jahre nach dem Tod des Vaters fiel sie jedoch »in ein Loch«. Da war sie bereits Studentin in Stuttgart. Sie habe sich sofort einen Therapeuten gesucht. Sie weiß, dass sie als Angehörige gefährdet ist, selbst an einer Depression zu erkranken. Der Therapeut vermittelte sie an den AKL – und bat, dass sie sich durchchecken lässt. Ein guter Rat. »Ich hatte eine Schilddrüsenunterfunktion«, sagt sie. In die Trauergruppe ging sie trotzdem.
»Ich habe ein sehr gutes Umfeld, aber es ist etwas anderes, mit Menschen zu sprechen, die genau wissen, wie sich das anfühlt«, sagt sie. Neue Bekannte seien meist überfordert, wenn sie von ihrem Vater erzählt. »Oh, krass«, sei die typische Reaktion. »Ich finde es schön, wenn jemand einfach sagt: ›Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest‹.« (dpa)