In dem bombardierten Theater in Mariupol könnten sich noch mehr Menschen befunden haben als bisher angenommen. Der ukrainische Abgeordnete Serhij Taruta schrieb in der Nacht auf Facebook, dort seien zuletzt offenbar noch mindestens 1300 Menschen gewesen.
Das habe er von Personen erfahren, die im Theater gewesen und aus Mariupol hinausgekommen seien. Davor war der Stadtrat von rund 1000 Personen ausgegangen, die dort Schutz gesucht hatten.
Aussagen der ukrainischen Abgeordneten Olga Stefanyschyna zufolge wurden gestern rund 130 Zivilisten aus dem Theater gerettet. Taruta schrieb auf Facebook weiter, es sei noch immer unklar, wie viele Verletzte und Tote es gebe. Es bestehe die Sorge, dass es nach dem andauernden Beschuss der Stadt durch russische Truppen niemanden mehr gäbe, der die Menschen dort retten könne. »Niemand räumt die Trümmer weg.« Die Rettungsdienste seien durch die russische Blockade faktisch ausgeschaltet worden.
Italiens Kulturminister hat Unterstützung beim Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Theaters in der ukrainischen Küstenstadt Mariupol zugesagt. »Italien ist bereit, das Theater von Mariupol wiederaufzubauen«, schrieb Dario Franceschini auf Twitter. Der Ministerrat habe seinen Vorschlag angenommen, der Ukraine finanzielle Mittel anzubieten, um das Gebäude wieder aufzubauen, sobald es möglich sei. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte dem Italiener auf Twitter. Franceschini gehe mit gutem Beispiel voran.
50 bis 100 Bomben am Tag
In der vom Krieg stark betroffenen ukrainischen Hafenstadt Mariupol sind nach örtlichen Angaben etwa 80 Prozent der Wohnungen zerstört und davon rund 30 Prozent nicht wieder aufzubauen.
»Täglich werden durchschnittlich 50 bis 100 Bomben auf die Stadt geworfen. Die Verwüstung ist enorm«, teilte der Rat der Stadt am gestern bei Telegram mit.
EU wirft Russland Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht vor
Die EU wertete die Belagerung und Bombardierung von Mariupol durch russische Truppen als »ernsthaften und schwerwiegenden Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht«. »Diese Belagerung ist unmenschlich«, erklärte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel. Die Belagerung müsse aufgehoben sowie die Bombardierung und die Angriffe auf Zivilisten müssten gestoppt werden.
Das humanitäre Völkerrecht sieht zum Beispiel vor, dass in bewaffneten Konflikten immer zwischen Zivilbevölkerung und Kämpfenden zu unterscheiden ist. Demnach dürfen weder die Zivilbevölkerung als Ganzes noch einzelne Zivilisten angegriffen werden. Angriffe dürfen ausschließlich militärischen Zielen gelten.
Bürgermeister beschreibt katastrophale Zustände
Der stellvertretende Bürgermeister Mariupols beschreibt katastrophale Zustände. Besonders dramatisch sei die mangelnde Wasserversorgung, sagte Serhij Orlow dem Magazin »Forbes Ukraine«. »Ein kleiner Teil der Menschen kann privat Wasser aus Brunnen entnehmen.« Da die Heizungen ohnehin nicht mehr funktionierten, nutzten manche aber auch das Wasser aus Heizungsrohren, um es zu trinken. »Manche sagen auch, dass sie es aus Pfützen nehmen. Als es Schnee gab, haben sie den geschmolzen.«
Sergij Orlow warf Russland vor, gezielt Zivilisten zu attackieren, um eine Kapitulation der Stadt zu erzwingen. Russland beteuert stets, nur militärische Ziele anzugreifen.
Mariupol sei laut Stadtrat seit 16 Tagen blockiert, Tausende müssten vor russischem Beschuss Deckung suchen in Schutzräumen. Bisher seien etwa 30.000 Zivilisten aus der Stadt geflohen. Die Angaben waren nicht unabhängig zu prüfen. Hilfskonvois kommen nach Angaben aus Kiew seit Tagen nicht durch. Mehrere Evakuierungsversuche der strategisch wichtigen Stadt scheiterten.
Nach ukrainischen Angaben hatten aber in den vergangenen zwei Tagen Tausende Menschen die Stadt in rund 6500 Privatautos verlassen können.
Russland: 43.000 Menschen aus Mariupol geflohen
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sind weitere rund 43.000 Menschen aus Mariupol in Sicherheit gebracht worden. Zudem seien am Donnerstag den Menschen 134 Tonnen Hilfsgüter übergeben worden, darunter Medikamente und Lebensmittel, sagte Generalmajor Michail Misinzew in Moskau.
Misinzew warf »ukrainischen Nationalisten« vor, die Fluchtkorridore zu blockieren und friedliche Menschen nicht durchzulassen. Ziel der ukrainischen Seite sei es, Zeit zu gewinnen, um Hilfe aus dem Westen zu erhalten. Überprüfbar sind diese Angaben nicht.
Nach Darstellung von Militärsprecher Misinzew stimmte Moskau am Donnerstag einem Vorschlag Kiews zu, neun weitere humanitäre Korridore an umkämpften Städten einzurichten und die Feuerpause einzuhalten. Solche Korridore gibt es demnach in der Hauptstadt Kiew, in der zweitgrößten Stadt Charkiw im Osten des Landes, darunter sei auch ein Weg nach Russland; in Sumy, Schytomyr und Saporischschja. Die Ukraine hatte Russland wiederholt die Sabotage der Fluchtkorridore vorgeworfen.
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