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Wie die Russen Putins Aggression sehen

Voller Entsetzen blickt der Westen auf Moskaus Machtdemonstration in der Ostukraine und befürchtet eine großangelegte Invasion. Aber wie reagieren Russen auf Putins neuen Völkerrechtsbruch?

St. Petersburg
Pro-Kreml-Aktivisten und Studenten demonstrieren auf dem Palastplatz in St. Petersburg. Foto: Ivan Petrov
Pro-Kreml-Aktivisten und Studenten demonstrieren auf dem Palastplatz in St. Petersburg.
Foto: Ivan Petrov

Die Separatisten mit russischen Pässen und Fahnen in der Ostukraine bejubeln den russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Anerkennung der Regionen Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten.

Viele hoffen nun auf einen baldigen Beitritt zur Russischen Föderation - so wie die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim, die 2014 einverleibt wurde. Aber von der Euphorie des »Krim-Frühlings«, der Putin damals politischen Auftrieb brachte, ist diesmal nichts zu spüren. Eher von einem »Donbass-Winter«. »Sei gegrüßt, Donbass!«, titelte auch das Boulevardblatt »Moskowski Komsomolez« ungewöhnlich nüchtern.

»russki mir«

Ultranationalisten und konservative Kräfte, aber auch Kommunisten und die einflussreiche russisch-orthodoxe Kirche sind erwartungsgemäß entzückt über das aggressive Großmachtstreben Putins in seiner Konfrontation mit dem Westen. Ein Kirchenfürst lobte Putin für die "Heilung von einer historischen Amnesie". Die Rettung einer russischen Welt - auf Russisch: »russki mir« - ist längst zu einem Schlagwort auch in den Staatsmedien geworden.

Aber es gibt auch viele Pragmatiker, Unternehmer, Intellektuelle, Künstler, liberale Kräfte, soweit sie noch nicht in den Westen ausgewandert sind, die offen ihr Entsetzen äußern. Der prominente Blogger Juri Dud, der ein Millionenpublikum hat, warf dem »Imperator« Putin vor, mit der Geschichte zu spielen. »Ich habe diesen Machtapparat nicht gewählt und unterstütze seinen imperialen Auswurf nicht.« Er stehe fest an der Seite der Ukrainer und ihrer Familien. Er wolle sich nicht vor seinen Kindern schämen müssen.

Viele Russen haben über eine schlaflose Nacht geklagt nach Putins Rede am Montag, weil er mit der Anerkennung der Separatistengebiete die Existenzberechtigung der Ukraine infrage stellte. Gedanken an einen Krieg zwischen den vielfach familiär miteinander verbundenen Russen und Ukrainern lassen die Menschen in beiden Ländern erschaudern.

Russlands Staatsfernsehen zeigt seit Tagen in Dauerschleife Bilder von Explosionskratern und zerstörten Gebäuden in den umkämpften Regionen Luhansk und Donezk - und von ostukrainischen Flüchtlingen. Was Lügenpropaganda, was echtes Unheil ist, können viele in Russland kaum auseinanderhalten. Aber sie verstehen die Botschaft so, dass sie sich auf einen neuen Krieg einstellen müssen. Das vom Kreml gesteuerte Fernsehen ist oft der beste Gradmesser dafür, wann sich Russland von seiner gewaltsamen Seite zeigt.

In Kiew geht der Alltag weiter

Kaum ein Wort fällt über die Aggressionen der Separatisten gegen die ukrainischen Regierungstruppen - oder über die Lage der Menschen in der Ukraine, die auch durch die Konfrontation mit Russland zum ärmsten Land Europas geworden ist. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew - von der Nato immer wieder als mögliches Angriffsziel Russlands genannt - sind viele Menschen trotzdem immer noch recht gelassen.

Die Dreimillionenstadt geht weiter ihrem Alltag nach. Keine Spur von Kriegsangst. Nicht einmal die Hälfte der Ukrainer rechnet mit einem großen Krieg. Bei sonnigem und frühlingshaftem Wetter sitzen die Menschen in gut gefüllten Cafés und Restaurants. Straßenmusiker sorgen für Unterhaltung. Eine erhöhte Polizei- oder Militärpräsenz ist weiter nicht zu sehen. Ändern könnte sich das mit dem am Mittwoch angekündigten Ausnahmezustand.

In Moskau hingegen herrscht düstere Winterstimmung. Wegen der Pandemie sind Demonstrationen verboten. Es ist nichts zu spüren von der Euphorie, wie sie damals bei der »Wiedervereinigung« mit der Krim herrschte. Das staatliche Meinungsforschungsinstitut Wziom, das eher die Wirksamkeit der Propaganda im Staatsfernsehen misst, ermittelte damals 93 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung. Die Anerkennung des sogenannten Donbass unterstützten nun nur 73 Prozent.

Milliardenschäden durch Sanktionen

Seit der Annexion der Krim ist bei vielen Russen Ernüchterung eingetreten - nicht nur wegen der hohen Kosten, sondern auch wegen des Ansehensverlusts des Landes in der Welt. Die Sanktionen des Westens haben Milliardenschäden verursacht, die großen Infrastrukturprojekte auf der Halbinsel haben riesige Summen aus dem Staatshaushalt verschlungen, die anderen Regionen fehlen.

Dass Putin in seiner mit eisiger Gehässigkeit vorgetragenen Rede am Montag Korruption, hohe Lebenshaltungskosten und bittere Armut in der Ukraine beklagte, brachte ihm in sozialen Netzwerken viel Häme ein. Die am meisten gestellte Frage war, ob der Präsident da vielleicht nicht doch eher Russlands Realität beschrieben habe.

Der prominente Publizist Maxim Schewtschenko warnte zudem vor sozialen Spannungen, die wegen der inzwischen mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ostukraine in Teilen Russlands auftreten können. Viele Russen kommen auch ohne die erbetene Solidarität kaum über die Runden. Sorgen macht vielen Menschen zudem der massive Wertverlust des Rubels gegenüber dem Dollar und Euro, was das ganze Leben noch teurer macht.

Russische Experten warnen schon seit langem, dass Putin mit einem Krieg gegen die Ukraine nichts gewinnen und auch mit der Anerkennung des Donbass seine Zustimmungswerte nicht verbessern könne - nach mehr als 22 Jahren an der Macht. Die nächste Präsidentenwahl ist 2024.

»Die dunkle Seite der Geschichte«

Der Experte der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center, Alexander Baunow, meinte, dass der pragmatische Teil Russlands jetzt eine Niederlage erlitten und die »Kriegspartei« gewonnen habe. Seine Kollegin Tatjana Stanowaja schrieb bei Telegram: »Heute ist der Tag, an dem Wladimir Putin auf die dunkle Seite der Geschichte übergegangen ist.« Er überschätze die Unterstützung in der russischen Bevölkerung, die nicht bereit sei, meint die Politologin. »Das ist der Anfang vom Ende seines Regimes.«

© dpa-infocom, dpa:220223-99-256292/4