»Sie haben unser Boot zum Sinken gebracht«, sagen die Migranten über die griechische Küstenwache. »Sie wollten unsere Hilfe nicht«, rechtfertigt sich die Behörde. Eine Woche nach dem schweren Bootsunglück mit vielen Hundert toten Migranten im Mittelmeer steht nicht mehr die Suche nach Überlebenden, sondern nach den Schuldigen im Mittelpunkt. Für die einen sind es die Schleuser, für andere die Küstenwache oder die EU und ihre Migrationspolitik, für manche auch die Migranten selbst, weil sie die gefährliche Reise angetreten haben. Und wo war eigentlich die EU-Grenzschutzagentur Frontex?
Was sich in den Stunden vor dem tragischen Unglück mitten in der Nacht auf hoher See wirklich abspielte, bleibt trotz immer neuer Details unklar und widersprüchlich. Ein Überblick:
Die Schleuser
Schon kurz nach dem Untergang des Bootes veröffentlichte die griechische Presse gnadenlos die Fotos von neun Männern. Bei den Ägyptern im Alter zwischen 20 und 40, die teils flehend, teils ängstlich und in einem Fall sogar recht freundlich in die Kamera schauen, soll es sich um die Schleuser an Bord des Unglücksbootes handeln. Laut Aussagen Überlebender konnten sie sich an Bord frei bewegen, während die bis zu 700 Passagiere während der tagelangen Fahrt mit angezogenen Knien am Boden hocken mussten. Einer soll mit einem Stock patrouilliert und die Menschen eingeschüchtert haben. Die Behörden gehen davon aus, dass die Männer Teil eines Schleuserrings sind, der in den vergangenen Monaten bis zu 18 solcher Fahrten organisiert hat.
Die Küstenwache
Zunächst gelangten Informationen über das Unglück von der Küstenwache nur tröpfchenweise an die Öffentlichkeit. In jüngsten Medienberichten heißt es unter Berufung auf Aussagen Überlebender, das Patrouillenboot der Küstenwache habe den Kutter angeleint, als dieser zwischenzeitlich stoppte, und Richtung Italien gezogen - also einen Pushback versucht. Die Küstenwache bestreitet das. Der Kapitän des Patrouillenbootes gibt an, das Flüchtlingsboot am Bug vertäut zu haben, um es in griechische Gewässer und in Sicherheit zu bringen. Das aber hätte die Besatzung nicht gewollt. Es seien Rufe »No help!« und »Go Italy!« zu hören gewesen, man brauche keine Hilfe, man wolle nach Italien. Schließlich hätten die Migranten das Seil gelöst und seien weitergefahren. Nur kurze Zeit später hielt das Boot laut Küstenwache erneut an, geriet ins Schwanken und kenterte.
Der Vorwurf eines Pushbacks ist hier unlogisch: Bis zu italienischen Hoheitsgewässern wären es vom Unglücksort aus mehr als 200 Seemeilen gewesen, bis zur italienischen Seenotrettungszone immer noch gut 100 Seemeilen. Es hätte Tage gedauert, das Boot dort hinzuschleppen. Der Abstand zur griechischen Küste hingegen betrug nur rund 50 Seemeilen.
Anderen Berichten nach soll das Boot bereits seeuntüchtig gewesen sein - hier lautet der Vorwurf, die Küstenwache hätte eingreifen müssen, auch wenn sich der Vorfall in internationalen Gewässern abspielte und die Flüchtlinge Hilfe ablehnten. Dem widerspricht die Behörde ebenfalls: Der Kutter sei weitergefahren, wenn auch langsam.
Fachleute geben zudem zu bedenken: Ein ungebetenes Eingreifen der Beamten hätte zu Panik auf dem Boot führen und es ebenfalls zum Sinken bringen können. Eine Massenpanik an Bord soll laut Küstenwache die Ursache für das Kentern gewesen sein - zu der sei es gekommen, weil die Bootsmaschinen wiederholt ausgefallen seien.
Unklar ist bislang, über welche möglicherweise erhellenden Informationen die EU-Grenzschutzagentur Frontex verfügt. Griechische Medien veröffentlichten am Dienstag Luftaufnahmen des Bootes, die von Frontex stammen sollen. Die Behörde selbst gibt an, das Boot bereits am Tag vor dem Untergang entdeckt zu haben.
Die Migranten
Nicht nur an Bord erging es den Migranten elend. Angehörigen wurden Videos zugespielt, wonach die Menschen bereits Wochen vor Antritt der Reise in der libyschen Hafenstadt Tobruk quasi eingesperrt waren und warteten. »Sie hielten sie dort einen Monat lang fest«, berichtete ein Angehöriger griechischen Medien, der seinen Cousin verloren hat und angab, mit diesem telefonisch in Kontakt gestanden zu haben. »Sie hätten ein größeres Boot erhalten sollen, aber schließlich war es der Fischkutter.« Auf der Reise soll es sieben Tage lang nichts zu essen gegeben haben und kaum Trinkwasser. »An Bord kam es zu Auseinandersetzungen über die letzten Tropfen Wasser. Und es gab Tote, bevor das Schiff überhaupt unterging«, sagte der Angehörige.
In der Region des Unglücksorts sucht die Küstenwache auch eine Woche nach der Katastrophe weiter nach Todesopfern, obwohl tagelang niemand mehr gefunden worden war. Am Montag dann wurden drei weitere Leichen geborgen, so dass die offizielle Zahl der geborgenen Toten auf 81 stieg. Zusammen mit den 104 Überlebenden ergibt das rund 200 Menschen - die Zahl, die sich am Deck des Bootes befand, wie Fotos zeigen. Hunderte weitere aber sollen noch unter Deck gewesen sein.
Das Wrack
Auf die Bergung des Bootes und den Hunderten weiteren Toten machen Experten kaum Hoffnung. Der Kutter sank an der tiefsten Stelle des Mittelmeers mit über 5000 Metern Tiefe. »Das ist eine sehr große Tiefe - Taucher können dort gar nicht operieren, und es kommt auch darauf an, in welchem Zustand das Schiff ist«, sagt Marcus Bentin, Professor für Schiffstechnik an der Hochschule Emden/Leer. Möglich wäre der Einsatz ferngesteuerter Geräte, doch dieser sei extrem aufwendig und teuer.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Selbst die Titanic in 3800 Metern Tiefe wurde trotz großen Interesses nie geborgen. Ebenso die 1994 gesunkene Fähre Estonia mit 852 Toten, die zur Ruhestätte erklärt wurde. Sie liegt im Meer zwischen Schweden und Estland - in einer Tiefe von nur 80 Metern.
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