Seit fast drei Monaten schläft Faraidoon in einem kleinen blauen Zelt neben einer stark befahrenen Straße in der Brüsseler Innenstadt. Auf von Regen durchweichten Holzpaletten stehen gut 20 weitere Zelte eng an eng. Oft teilen sich zwei Männer eine spärliche Behausung. Wie der 27 Jahre alte Fairadoon kommen die meisten von ihnen aus Afghanistan. Nach ihrer Ankunft in Belgien haben sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Einen Platz in einem Asylwohnheim, der ihnen gesetzlich zusteht, haben sie bislang jedoch nicht erhalten.
Asylunterkünfte in Belgien und den Niederlanden sind seit Monaten hoffnungslos überlastet. Schätzungen der zuständigen belgischen Behörde Fedasil zufolge waren Anfang des Jahres rund 3000 Schutzsuchende in Belgien obdachlos. Sie leben in Zelten wie Faraidoon oder in einem verlassenen Gebäude in der Brüsseler Innenstadt. »Das ist inakzeptabel«, sagt Fedasil-Sprecher Benoit Mansy der Deutschen Presse-Agentur. Doch die Kapazitäten reichten einfach nicht aus.
»Die Lage ist unter die humanitäre Untergrenze gesunken«
Auch in den Niederlanden müssen viele Asylsuchende unter erbärmlichen Umständen leben. Rund 22.000 wohnen bereits seit über einem Jahr in Notunterkünften, etliche von ihnen seit über einem Jahr auf Feldbetten in Turnhallen oder großen Zelten, dünne Stellwände sorgen kaum für Privatsphäre. »Die Lage ist unter die humanitäre Untergrenze gesunken«, erklärte das Flüchtlingshilfswerk des Landes und zog im vergangenen Sommer vor Gericht - mit Erfolg. Die Richter entschieden, dass die Umstände nicht internationalen Normen entsprächen.
Die niederländische Asylkrise ist vor allem hausgemacht: Im vergangenen Jahr waren es laut der zentralen Behörde für die Aufnahme von Asylsuchenden COA rund 47.000 Menschen, die hier Asyl suchten - keine außergewöhnlich hohe Zahl. 2015 waren noch rund 60.000 registriert worden. Doch um zu sparen, hatte die Regierung Personal und Plätze in Aufnahmezentren gestrichen. Die Wartezeit für die Bearbeitung der Asylanträge wurde immer länger. Zusätzlich sorgt die allgemeine Misere auf dem Wohnungsmarkt dafür, dass kaum Plätze in den Wohnheimen frei werden. Daher werden viele Ankömmlinge in Notunterkünften untergebracht, in Turnhallen oder auf Passagierschiffen.
Auf Straßen übernachten müssen Asylbewerber nach Erkenntnissen des Deutschen Städte- und Gemeindebunds in Deutschland nicht. Auch wenn sich die Zahl der Schutzsuchenden 2022 im Vergleich zum Vorjahr deutlich erhöhte (um knapp 47 Prozent) - im vergangenen Jahr stellten rund 218.000 Menschen einen Asylerstantrag.
Was läuft schief?
Wieso gelingt es Belgien nicht, die Asylsuchenden besser zu versorgen? Faraidoon beklagt, Fedasil teile ihm Woche zu Woche mit, weiter auf eine Unterkunft warten zu müssen. Magali Pratte von der Brüsseler Obdachlosenhilfe Samussocial wirft der Politik fehlenden Willen vor. Um Menschen vor der Obdachlosigkeit zu bewahren, gebe es auch in dem kleinen Königreich leerstehende Gebäude, in denen Schutzsuchende zumindest vorläufig unterkommen könnten. Schnelle pragmatische Lösungen gehörten jedoch nicht zu den Stärken der staatlichen Organe, kritisiert Pratte.
Nach Angaben der belgischen Behörde für Flüchtlinge und Staatenlose haben 2022 knapp 37.000 Menschen einen Asylantrag in Belgien gestellt. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum entspreche das einem Anstieg von 42 Prozent. Die meisten Menschen kamen demnach aus Afghanistan, Syrien, Burundi und Palästina. Zudem haben der Statistikbehörde Eurostat zufolge rund 57.000 Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen März und November Schutz in dem Land gesucht. Sie müssen in der EU jedoch kein Asyl beantragen und haben etwa freien Zugang zum Wohnungsmarkt.
EU-Staaten streiten schon seit Jahren über Verteilung
Insgesamt gibt es in dem 11,6-Millionen-Einwohner-Land laut Fedasil 33.500 Plätze in Asylunterkünften. 5000 davon seien im vergangenen Jahr neu geschaffen worden. Die Plätze seien teils jedoch über lange Zeiträume besetzt, weil Asylbewerber monatelang auf ihren Bescheid warten müssten, sagt Behördensprecher Mansy. Die belgische Regierung fordert, Asylbewerber müssten gleichmäßiger auf alle EU-Länder verteilt werden. Doch die EU-Staaten streiten schon seit Jahren erbittert über eine solche Verteilung.
Mit der Not vieler Asylbewerber in Belgien beschäftigte sich zuletzt sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Knapp 150 Schutzsuchende hatten gegen den belgischen Staat geklagt, weil sie wie Faraidoon auf der Straße schlafen müssen - und keine sauberen Toiletten und Duschen zur Verfügung haben. Das Gericht gab ihnen Recht und wies Belgien dazu an, den Klägern eine Unterkunft zu bieten. Mehr als zwei Monate sind seit dem Urteil vergangen. Fedasil-Sprecher Benoit Mansy versicherte auf dpa-Anfrage, dass die Kläger bevorzugt behandelt würden. Trotzdem seien einige von ihnen immer noch obdachlos.
Wie lange Faraidoon und die anderen Männer noch in ihren Zelten ausharren müssen, wissen sie nicht. Manche sind eigenen Angaben zufolge schon seit fünf, sechs Monaten auf der Straße. Frauen sieht man in dem Camp keine. Genauso wie Kinder und Familien werden sie Mansy zufolge bei der Unterbringung bevorzugt. Laut Pratte gibt es unter den Obdachlosen Fälle von Krätze, Diphtherie und Tuberkulose. Viele hätten einen schweren Lebensweg hinter sich und seien traumatisiert. Das Leben auf der Straße verschlimmere die Probleme. Trotz der widrigen Umstände sind sich die Männer aber einig: Sie sind lieber in Belgien auf der Straße als in Afghanistan bei den Taliban.
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