Jubel, Fähnchen und Freudentränen: In einem Triumphzug zieht der neue britische Premierminister Keir Starmer in der Downing Street ein. Für seine Labour-Partei ist es ein historischer Sieg nach 14 Jahren in der Opposition.
Bei der vorigen Wahl noch von Boris Johnson vernichtend geschlagen, halten die Sozialdemokraten jetzt eine überwältigende Mehrheit im Unterhaus in London.
Trotz des Wahlsiegs ist die erste Rede des neuen Regierungschefs alles andere als triumphierend. Starmer weiß: Ihm stehen enorme Herausforderungen bevor, und die Unterstützung der Bevölkerung ist nicht so breit, wie sie auf den ersten Blick erscheint.
Wandel brauche Zeit, gesteht Starmer ein. »Aber wir können heute den Anfang machen mit dem einfachen Bekenntnis, dass der Dienst an der Gemeinschaft ein Privileg ist und unsere Regierung jeden einzelnen Menschen in diesem Land mit Respekt behandeln sollte.«
Das Wahlergebnis trügt
Labour kommt nach Auszählung fast aller Stimmen auf mindestens 412 von 650 Sitzen im Parlament. Die bisher regierenden Konservativen von Starmers Vorgänger Rishi Sunak fahren mit voraussichtlich nur 121 Sitzen das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein.
Doch die Sitzverteilung trügt: Zwar hält Labour zwei Drittel der Mandate, aber kann nur gut ein Drittel (34 Prozent) der Wählerstimmen auf sich vereinen.
Starmer verspricht Rückkehr zu Stabilität und Wachstum
Nach Ansicht von Professor John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow haben die Briten die Konservativen nach 14 Jahren voller Chaos, Skandalen und wirtschaftlicher Stagnation abgestraft. Nicht Labour wurde gewählt, die Tories wurden abgewählt, urteilt er.
Wohl deshalb wendet sich Starmer direkt an die Menschen, die Labour nicht gewählt haben: »Meine Regierung wird sich in Ihren Dienst stellen. Politik kann eine Kraft des Guten sein - das werden wir beweisen«, wirbt er. Gleichzeitig kündigt er einen Neustart und eine Rückkehr zu Stabilität und Wachstum an.
Gesetzesvorhaben sollen rasch umgesetzt werden
Mit Spannung wird daher die politische Agenda der neuen Regierung erwartet. In knapp zwei Wochen soll König Charles III., der Starmer eben noch im Buckingham-Palast zum Premier ernannt hat, das Regierungsprogramm verlesen.
Erwartet wird, dass die neue Regierung versuchen wird, so schnell wie möglich Gesetzesvorhaben umzusetzen. Berichten zufolge will Starmer rasch viele neue Mitglieder ins Oberhaus bringen, um auch in der zweiten Kammer eine Mehrheit für seine Pläne zu haben. Das Motto heißt Durchregieren.
Gelegenheit, sich auf dem internationalen Parkett zu beweisen, bekommt Starmer bereits in der kommenden Woche beim Nato-Gipfel in Washington. Eine Woche danach empfängt der Premier mehr als 40 Staats- und Regierungschefs zum Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft.
Gewaltige Herausforderungen
Die Wählerbindung dürfte schwierig werden. Viele erwarten geradezu Wunderdinge vom neuen Premier. Dabei steht das Land vor enormen Herausforderungen. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS liegt am Boden, es gibt zu wenig Wohnraum, die maroden Gefängnisse sind überfüllt, es herrscht akuter Fachkräftemangel, der Brexit ist noch immer nicht überwunden.
Nur gibt es eigentlich kein Geld, um Verbesserungen zu finanzieren und notwendige Investitionen anzuschieben. Labour will Steuererleichterungen für Privatschulen streichen, Steuerschlupflöcher für wohlhabende Ausländer schließen sowie die Übergewinnabgabe für Energieunternehmen erhöhen. Für Privathaushalte, die ohnehin unter der höchsten Steuerlast seit Jahrzehnten klagen, soll sich aber nichts ändern.
Populisten lauern auf Misserfolge und Rückschläge
Die gewaltige Mehrheit ist ein komfortabler Puffer für Starmer. Doch die Flitterwochen des ehemaligen Chefs der Anklagebehörde CPS mit der britischen Bevölkerung könnten kurz sein. Sowohl von rechts als auch von links lauern Populisten, die Misserfolge und Rückschläge politisch ausschlachten wollen.
Starmer muss zunächst einmal alle Strömungen innerhalb der Partei bei Laune halten. Labour ist nicht einfach mit der deutschen Schwesterpartei SPD gleichzusetzen. Das Spektrum würde in Deutschland - wenn man einen Vergleich versucht - in etwa von der Linkspartei bis zum eher konservativ orientierten Seeheimer Kreis in der SPD reichen. Bis vor wenigen Jahren war Labour eine zutiefst gespaltene Partei.
Ex-Labour-Chef Corbyn zieht wieder ins Parlament ein
Der linke Flügel um Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, der 2019 krachend gegen den damaligen konservativen Premier Johnson verlor und anschließend von Starmer aus der Partei gedrängt wurde, könnte aufbegehren, wenn Labour zu sehr in die politische Mitte rückt.
Corbyn zog trotz Parteiausschluss bei der Wahl als unabhängiger Kandidat wieder ins Parlament ein. Mit Starmers Stellvertreterin Angela Rayner ist noch immer eine populäre Vertreterin des einstigen Corbyn-Lagers im Zentrum der Parteiführung.
Gaza-Konflikt kostet Labour Wählerstimmen
Hinzu kommt die heikle Frage um die Positionierung Großbritanniens im Gaza-Konflikt. Gerade in dieser Frage muss Labour auch einige Dämpfer hinnehmen.
Spitzenpolitiker Jonathan Ashworth verliert seinen Wahlkreis überraschend an einen unabhängigen, propalästinensischen Kandidaten. Selbst Parteichef Starmer erhält deutlich weniger Stimmen als beim vorigen Mal. Auch ihm setzte ein Bewerber zu, der das israelische Vorgehen im Gazastreifen kritisiert.
Mit dem Wahlsieg habe Labour zwar einen Gipfel bezwungen, kommentiert Sky-News-Reporterin Beth Rigby das Wahlergebnis. Doch das sei nur der Anfang. Auf Starmer und Labour warten noch viele weitere Berge.
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