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Wahlsieger Boris Palmer blamiert Grüne in Tübingen

Boris Palmer hat sich gegen seine eigene Partei bei der Oberbürgermeisterwahl durchgesetzt. Seine streitbare Art will er beibehalten - aber auch für die Grünen eintreten. Gibt es eine Chance auf eine Versöhnung?

Boris Palmer
Boris Palmer, der alte und neue Oberbürgermeister von Tübingen, kommt nach seiner Wiederwahl auf den Marktplatz und empfängt Glückwünsche. Foto: Bernd Weißbrod
Boris Palmer, der alte und neue Oberbürgermeister von Tübingen, kommt nach seiner Wiederwahl auf den Marktplatz und empfängt Glückwünsche.
Foto: Bernd Weißbrod

Nach dem Triumph von Boris Palmer und dem Fiasko für die Grünen bei der Tübinger Oberbürgermeister-Wahl hofft die Parteispitze auf eine Wiederannäherung mit dem schwer zu zähmenden Rathauschef. Grünen-Chef Omid Nouripour sagte nach einer Sitzung des Bundesvorstandes in Berlin, die Kandidatin der Grünen, Ulrike Baumgärtner, habe mit 22 Prozent ein »respektables Ergebnis« erzielt, zu dem ihr die Parteispitze gratuliert habe.

»Und Boris Palmer habe ich auch gratuliert«, sagte Nouripour. Palmer, der als unabhängiger Kandidat angetreten war, sei diesmal »mit leisen Tönen« erfolgreich gewesen. »Vielleicht gibt es ja eine Lehre, die man daraus ziehen kann.« Palmers Mitgliedschaft bei den Grünen ruht derzeit wegen Streitereien um Tabubrüche und Rassismusvorwürfe.

Die Realos bei den Grünen zeigten sich erfreut über Palmers Sieg. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann (74) sagte dem SWR: »Ich freue mich für ihn. Ich bin ja mit ihm befreundet.« Für die dritte Amtsperiode wolle er ihm mit auf den Weg geben, dass ein OB zusammenführen sollte und »nicht zuviel polarisieren«. Palmer selbst schrieb auf Facebook, auch Vizekanzler Robert Habeck habe ihm gratuliert. Palmers alter Weggefährte, Bundesagrarminister Cem Özdemir, twitterte: »Man kann’s ja so sehen: Über 70 Prozent wählen auf die ein oder andere Art in Tübingen grün.« Und schickte einen »herzlichen Glückwunsch« an Boris Palmer hinterher.

Palmer: »Ich finde, diese Partei sollte streiten«

Palmer, der wohl bekannteste Kommunalpolitiker in Deutschland, gab sich nach seinem klaren Sieg mit 52,4 Prozent im ersten Wahlgang schon wieder streitlustig. »Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine«, sagte er der Deutschen Presse-Agentur und zitierte damit einen Spruch des verstorbenen Altkanzlers Helmut Schmidt (SPD). »Die negative Bewertung des Wortes Streit halte ich für einen schweren Fehler«, sagte Palmer. »Ich finde, diese Partei sollte streiten.« Zugleich schlug er auch versöhnliche Töne an. Seine Absicht und sein Angebot sei es, für seine Partei mitzuwerben, miteinzutreten und die Werte, die ihm wichtig seien, hochzuhalten. Ökologie sei das einigende Band der Grünen, das werde er künftig wieder stärker hervorheben.

Am Sonntag war der 50 Jahre alte Palmer für weitere acht Jahre als OB in der Universitätsstadt gewählt worden. Er ist seit 16 Jahren Rathauschef in Tübingen. Palmer war wegen innerparteilichen Zoffs nicht für die Grünen, sondern als unabhängiger Kandidat angetreten. Seine Parteimitgliedschaft ruht noch bis Ende 2023. Der Landesverband in Stuttgart gratulierte Palmer zur Wiederwahl. Auf die Frage, ob die Wahl Einfluss auf die ruhende Parteimitgliedschaft habe, sagte eine Sprecherin, es seien schon Gespräche für das nächste Jahr vereinbart.

Klatsche für die Parteilinken

Vor allem für den linken Flügel bei den Grünen ist Palmers Erfolg eine Klatsche. Für viele Linke ist der OB ein rotes Tuch. Ein kurzer Rückblick: Knapp fünf Monate vor der Bundestagswahl hatte Palmer eine Debatte über Rassismus ausgelöst - auf Facebook, mit Aussagen über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo. Palmer geriet in einen heftigen Shitstorm. Er fühlte sich missverstanden - mal wieder. Es sei immer das gleiche Muster, sagten seine Gegner. Für die damalige Kanzlerkandidatin war das Maß voll. Annalena Baerbock nannte Palmers Äußerung »rassistisch und abstoßend« und kündigte Konsequenzen an. Der Landesvorstand mit dem damaligen linken Vorsitzenden Oliver Hildenbrand stieß daraufhin ein Parteiordnungsverfahren an.

Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann (74), einst Palmers politischer Ziehvater, zweifelte früh am Sinn des Ausschlussverfahrens. Die Oberrealos in der Südwestpartei waren schon bald überzeugt, dass Palmer die Grünen mit einem Sieg blamieren werde. Kretschmann fragte einmal öffentlich: »Wer soll am Ende was dabei gewinnen?« Noch kurz vor der Wahl verkniff er sich eine Antwort auf die Frage, wem er denn die Daumen drücke.

Grüne schwächeln in den Kommunen

Die Niederlage in Tübingen wirft ein Schlaglicht auf die kommunale Schwäche der Grünen in ihrem Stammland. Derzeit hat die Ökopartei nur noch zwei OB, in Böblingen und in Göppingen. Die Zeiten, in denen die Grünen auch in der Landeshauptstadt Stuttgart, Freiburg oder Konstanz regierten, sind längst passé. Dabei hat sich die Landespartei erst jüngst wieder auf die Fahnen geschrieben, sich stärker der kommunalen Basis zu widmen. Denn der Abgang des auch bei konservativen Wählern beliebten Ministerpräsidenten Kretschmann ist mit dem Jahr 2026 absehbar. Deswegen wollen die Grünen Voraussetzungen dafür schaffen, nach dem Abschied des Erfolgsgaranten an der Macht bleiben zu können.

Auch nach Palmers Wahlsieg gilt: An ihm scheiden sich die Geister. Sein alter Weggefährte Cem Özdemir, Bundesagrarminister, twitterte: »Man kann's ja so sehen: Über 70 Prozent wählen auf die ein oder andere Art in Tübingen grün.« Und schickte einen »herzlichen Glückwunsch« an Palmer hinterher. Wie erbittert manche Grüne auf Palmer schauen, zeigt der Tweet des Berliner Grünen-Abgeordneten Vasili Franco: »Mit Boris Palmer hat Deutschland jetzt den ersten AfD Oberbürgermeister. Traurig!«, schrieb er. Kurz darauf löschte Franco den Tweet und schrieb stattdessen: »Es ist 2022 und Rassismus ist immer noch kein Ausschlusskriterium.«

© dpa-infocom, dpa:221023-99-233857/15