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Streit um Nato-Perspektive für Kiew

Eine Mitgliedschaft in der Nato gilt neben einer eigenen Atombombe als ultimative Sicherheitsgarantie - vor allem für die Ukraine. Von einem prominenten SPD-Außenpolitiker kommt nun ein brisanter Vorstoß.

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Das Nato-Hauptquartier in Brüssel. Foto: Virginia Mayo/DPA
Das Nato-Hauptquartier in Brüssel.
Foto: Virginia Mayo/DPA

Wenige Tage vor dem Nato-Gipfel ist in Deutschland neuer Streit über den von der Ukraine erhofften Bündnisbeitritt entbrannt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth (SPD), wurde am Donnerstag wegen Äußerungen zu einer möglichen Teilaufnahme des Landes aus der eigenen Partei heftig angegangen. So bezeichneten andere SPD-Politiker den Vorstoß als »ziemlichen Unsinn« und warnten vor einem »Wettbewerb um die radikalsten Forderungen«. Die Nato-Zentrale reagierte zunächst nicht.

Roth hatte in einem Interview der Wochenzeitung »Die Zeit« dafür geworben, der Ukraine trotz des andauernden russischen Angriffskrieges eine konkrete Beitrittsperspektive zu geben. So sagte er: »Diejenigen Teile der Ukraine, die unter zuverlässiger Kontrolle der demokratischen Kiewer Regierung stehen, sollten schnellstmöglich zum Nato-Gebiet gehören.«

Konkret würde dies bedeuten, der Ukraine die wohl stärkste Sicherheitsgarantie zu geben, die es neben einer eigenen Atombombe geben kann. Für die ukrainischen Gebiete innerhalb der Nato würde dann nämlich Beistandspflicht nach Artikel 5 gelten - das heißt, alle Alliierten müssten dem Land helfen, wenn Russland zum Beispiel noch einmal die Hauptstadt Kiew angreifen sollte.

Roth betonte am Donnerstag, dass sich sein Vorstoß auf den theoretischen Fall bezieht, dass es nach einem Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland einen »eingefroren Konflikt« um weiter von Russland besetzte Gebiete geben könnte. »Hier könnte ich mir durchaus vorstellen, dass die Ukraine beitritt, sich daraus aber keine Nato-Beistandsverpflichtungen für von Russland besetzte Gebiete ergeben«, erläuterte er.

Gegner warnen vor Eskalationsgefahren

Andere Sozialdemokraten hatten die Äußerungen Roths scharf kritisiert. »Wir brauchen keine Alleingänge von Abgeordneten, sondern eine gemeinsame Politik mit unseren Verbündeten«, sagte der SPD-Außenexperte Ralf Stegner dem »Spiegel«. »Der Wettbewerb um die radikalsten Forderungen wird eher Eskalationsgefahren verstärken als eine tragfähige Friedenslösung herbeiführen.« Der SPD-Verteidigungsexperte Joe Weingarten nannte Roths Vorschlag sogar »ziemlichen Unsinn«.

Die Abgeordneten stellten sich damit hinter Bundeskanzler Olaf Scholz. Dieser hatte zuletzt mehrfach deutlich gemacht, dass er zum derzeitigen Zeitpunkt nicht über eine konkrete Beitrittsperspektive für die Ukraine diskutieren will. Anfang Juni sagte er, es gebe »sehr klare Kriterien für die Mitgliedschaft«. Ihm zufolge gehört dazu auch, dass ein Land keine Grenzkonflikte habe.

Streit auch innerhalb der Nato

Von der Nato selbst gab es am Donnerstag zunächst keine Reaktion auf die Äußerungen Roths. Innerhalb des Verteidigungsbündnisses ist wie in der SPD umstritten, wie mit dem Aufnahmewunsch der Ukraine umgegangen werden soll. So unterstützen vor allem die baltischen Staaten und Polen die Forderungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach einer konkreten Einladung für den Beitritt. Länder wie Deutschland und die USA wollen diese aber bislang nicht aussprechen. Als Grund gelten Sorgen vor einer unberechenbaren Reaktion Russlands, das mit seinem Krieg gegen die Ukraine einen Nato-Beitritt des Landes zu verhindern versucht.

Als Kompromiss ist derzeit im Gespräch, der Ukraine beim Gipfel in der kommenden Woche zu versprechen, dass sie vor einer Aufnahme nicht das übliche Heranführungsprogramm absolvieren muss. Der Aktionsplan zur Mitgliedschaft (Membership Action Plan - Map) gilt als eher lästig für Beitrittsaspiranten.

Debatte auf Augenhöhe

Zudem hatten sich die Mitgliedstaaten bereits vor einigen Wochen auf ein neues Format für die Zusammenarbeit mit der Ukraine verständigt. Es sieht vor, die bestehende Nato-Ukraine-Kommission zu einem Nato-Ukraine-Rat aufzuwerten. Dies soll es ermöglichen, mit dem von Russland angegriffenen Land auf Augenhöhe Schlüsselfragen der Sicherheit zu diskutieren und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Die Kommission wurde eingerichtet, um Reformen zu diskutieren, die für einen Beitritt zur westlichen Militärallianz notwendig sind. Der neue Rat soll nun zum ersten Mal am kommenden Mittwoch beim Gipfel auf Ebene der Staats- und Regierungschefs tagen. Selenskyj säße dann dort gleichberechtigt in einer Runde mit Biden, Scholz & Co.

Ob Selenskyj mit dem derzeitigen Stand der Diskussion zufrieden ist, kann bezweifelt werden. Er hatte zuletzt mehrfach eine »klare Einladung« für die Nato-Mitgliedschaft seines Landes bereits beim Bündnisgipfel im Juli in Litauen gefordert. »Wir brauchen Frieden. Deshalb sollte jedes europäische Land, das an Russland grenzt und das nicht will, dass Russland es auseinanderreißt, ein vollwertiges Mitglied der EU und der Nato sein«, sagte der 45-Jährige zum Beispiel Anfang Juni bei einem Europa-Gipfel in Moldau. Einzige Alternativen dazu seien ein offener Krieg oder eine grausame russische Besatzung.

© dpa-infocom, dpa:230706-99-308780/2