WIESBADEN. Vor ihrer anvisierten Wahl zur ersten Parteichefin der SPD ist Andrea Nahles mit großen Erwartungen konfrontiert. Am Sonntag will sich die SPD-Fraktionschefin beim Sonderparteitag in Wiesbaden an die Spitze der Partei wählen lassen - als erste Frau in der Geschichte der SPD.
Als Gegenkandidatin bewirbt sich die Flensburger Oberbürgermeisterin, Simone Lange - ihr werden aber kaum Chancen eingeräumt. Mit Spannung wird vor allem erwartet, wie Nahles bei den Delegierten abschneidet. Führende Genossen warben erneut für sie und äußerten die Hoffnung auf ein Aufbruchsignal aus Wiesbaden für die versprochene Rundumerneuerung der Partei.
Die SPD war bei der Bundestagswahl 2017 unter ihrem damaligen Parteichef Martin Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent der Stimmen gesackt. Durch die harten Debatten über eine Beteiligung an einer weiteren großen Koalition gab und gibt es erhebliche Unruhe in der Partei. Nahles hat einen großen Erneuerungsprozess angekündigt. Nun soll sie liefern.
Jusos-Chef Kevin Kühnert forderte von Nahles Mut zu tatsächlicher Erneuerung und echten Reformen. »Das Schlimmste wäre, wenn wir in einem halben Jahr wieder in den Alltagstrott verfallen würden und vergessen haben, was wir uns eigentlich vorgenommen hatten im Erneuerungsprozess. Die Gefahr ist sehr groß«, sagte Kühnert der Deutschen Presse-Agentur. »Und es ist Aufgabe der Vorsitzenden, dagegen anzugehen.« Bei einigen Themen wie Hartz IV müsse die Partei grundlegend neue Antworten liefern. »Mit kleinteiligen Korrekturen ist es nicht mehr getan.«
Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz, der die Partei derzeit noch kommissarisch führt, sagte, es werde der SPD gut tun, wenn künftig Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand lägen. Nahles sei eine »sehr starke Frau«, die auch Emotionen zeige. Auch das werde der SPD helfen.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin und Vize-Vorsitzende, Malu Dreyer, sagte, von dem Parteitag in Wiesbaden müsse ein Startsignal ausgehen, »dass wir mit Volldampf in die Erneuerung gehen«. Sie sei fest davon überzeugt, dass Nahles die richtige Kandidatin dafür sei.
SPD-Vize Manuela Schwesig mahnte, die Partei müsse aus der Krise geführt werden. »Das muss eine starke Parteivorsitzende machen, die auch entsprechende Erfahrung hat.« Nahles sei die richtige Person dafür. »Die SPD muss wieder stärker werden auf Bundesebene. Wir können uns mit den derzeitigen Umfragen nicht zufriedengeben.«
Der hessische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel, der im Herbst eine Landtagswahl zu bestehen hat, sagte, der Parteitag solle den Startschuss für die Erneuerung der SPD geben. Davon verspreche er sich auch Rückenwind für den Landtagswahlkampf. »Ich erwarte aber auch, dass wir jetzt Tempo aufnehmen.«
Auch die politische Konkurrenz beäugt die SPD aufmerksam. Grüne und FDP setzen auf eine Stärkung der Sozialdemokraten durch die Neuaufstellung der Parteispitze: Grünen-Chef Robert Habeck betonte im Deutschlandfunk, »dass Deutschland eine starke Sozialdemokratie braucht, und dass uns nicht geholfen ist, wenn die SPD schlecht da steht, und dass die SPD hohe Verdienste hat für die Geschicke dieses Landes«. Auch FDP-Chef Christian Lindner sagte der »Neuen Osnabrücker Zeitung« (Samstag), Deutschland brauche eine starke Sozialdemokratie.
Kann Nahles die Partei aus der Krise führen? Kühnert räumte ein: »Ich bin nicht hundertprozentig sicher, ob Andrea Nahles am Ende des Tages die Richtige sein wird.« Nach langer Abwägung traue er ihr allerdings eher zu, die Partei voranzubringen - »auch wenn sie nicht immer zu den gleichen Antworten kommen wird, wie ich oder die Jusos es tun«.
Lange stellte sich am Samstag in Wiesbaden im Parteivorstand vor und traf dort auch auf Nahles. Nach der Sitzung sagte Lange der Deutschen Presse-Agentur, es brauche einen Neuanfang. Mit Blick auf Nahles sagte die SPD-Politikerin: »Sie hat viele verschiedene Positionen in der Partei innegehabt, ich glaube deshalb brauchen wir jetzt neue Ansätze. Dazu gehören ein Stück weit auch neue Köpfe.« (dpa)