Spanien versinkt in eine spätsommerliche Polit-Siesta, die vielen in der viertgrößten EU-Volkswirtschaft Sorgen bereitet. Erst in über einem Monat, am 26. und am 27. September, wird das Unterhaus des Parlaments in Madrid über die Kandidatur des bisherigen konservativen Oppositionsführers Alberto Núñez Feijóo für das Amt des Ministerpräsidenten debattieren und abstimmen. In Spanien war allgemein ein deutlich früherer Termin erwartet worden, um eine lange Hängepartie mit mehreren negativen Folgen zu umgehen.
Feijóos Volkspartei PP hatte die vorgezogene Parlamentswahl am 23. Juli vor den Sozialisten (PSOE) von Ministerpräsident Pedro Sánchez gewonnen. Keiner der beiden hat bisher genug Unterstützung anderer Parteien für eine regierungsfähige Mehrheit. Und eine »große Koalition« gilt als ausgeschlossen, da die Traditions-Parteien in Spanien ideologisch viel weiter voneinander entfernt sind als etwa ihre deutschen Schwesterparteien CDU und SPD. Der dafür zuständige König Felipe beauftragte deshalb nach zweitägigen Konsultationen am Dienstag zunächst mal den Wahlsieger mit der Regierungsbildung.
Genug Zeit für Verhandlungen
Bei der Bekanntgabe des Abstimmungstermins im Unterhaus erklärte Kammer-Präsidentin Francina Armengol, Feijóo habe so genug Zeit für Verhandlungen mit anderen Parteien. Das macht auf den ersten Blick Sinn. Zumal der 61-Jährige auch um Zeit für Gespräche gebeten hatte. Bei genauerer Betrachtung ist die lange Wartezeit jedoch nur schwer zu verstehen. Denn in Spanien gilt auch in konservativen Kreisen als sicher, das Feijóo überhaupt keine Chance hat, genug Stimmen zu bekommen. Nicht heute und auch nicht in einem Monat. Unter anderem auch deshalb, weil sein wichtigster Partner - auch mangels Alternativen - die rechtspopulistische Partei Vox wäre.
In der ersten Runde benötigt der Kandidat eine absolute Mehrheit von mindestens 176 Ja-Stimmen. Im zweiten Wahlgang reicht eine einfache Mehrheit aus. Feijóo könnte aber bestenfalls auf 172 Stimmen kommen, 178 Nein-Stimmen seien ihm sicher, heißt es in Medienanalysen unisono. »Die Kandidatur ist zum Scheitern verurteilt«, schrieb am Mittwoch die renommierte Zeitung »El País«.
»Zum Schlachthof« geschickt
Sogar das der PP nahestehende Blatt "El Mundo" schlägt in die gleiche Kerbe. Um zum Nachfolger von Sánchez gewählt zu werden, müsste Feijóo "ein Magier sein", schrieb Kolumnistin Lucía Méndez. "Es gibt 178 Nein-Stimmen, das ist die unbestreitbare Realität". Feijóo habe akzeptiert, vom König »Zum Schlachthof« geschickt zu werden.
Vor diesem Hintergrund ließ die Kritik nach der Bekanntgabe Armengols nicht auf sich warten. PSOE-Sprecher Patxi López sprach von einer »Fake«-Kandidatur und warf den Konservativen vor, auf eine weitere Wahl zu spekulieren. »Feijóo interessieren die Probleme der Menschen und des Landes überhaupt nicht«, klagte auch die Sprecherin des Linksbündnisses Sumar, Marta Lois. »Es wird viel Zeit vergeudet.«
Der vielgefürchtete »Bloqueo«, eine politische Blockade, die Spanien bereits 2015/16 und 2019 erlebt hatte, wird wieder Realität. Welche Konsequenzen hat das? Bedeutende. Eine geschäftsführende Regierung darf in Spanien keinen Haushalt erstellen und auch keine Gesetzentwürfe ins Parlament einbringen. Zudem konzentrieren sich natürlich fast alle Anstrengungen und Mühen, alle Aufmerksamkeit auf die Bildung der neuen Regierung.
Zu allem Übel hat das Land bis Jahresende den EU-Ratsvorsitz inne. Bedroht die ungewisse Lage in Madrid wichtige europäische Projekte? Nach außen hin wurde bisher in Brüssel Ruhe demonstriert. Vor allem wegen der Europawahl im Juni 2024 könnte die längere Verzögerung in den nächsten Monaten jedoch problematisch sein. Projekte, die bis dahin nicht mit dem derzeitigen Parlament ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt werden.
Rückkehr des smarten Sozialisten?
Doch was passiert in Spanien, wenn, wie schon jetzt vorweggenommen, die Kandidatur von Feijóo abgeschmettert wird? Dann könnte Sánchez sein Glück versuchen. Dem smarten Sozialisten, der als politisches Stehaufmännchen gilt, weil er schon oft politisch totgesagt wurde und immer wieder Widerstände innerhalb und außerhalb der eigenen Partei überwinden konnte, räumt man ohnehin mehr Chancen auf das Erreichen einer regierungsfähigen Mehrheit ein. Neben den Stimmen von Sumar und kleinerer Regionalparteien bräuchte er aber auch ein Abkommen mit der Partei Junts des im Exil lebenden katalanischen Separatisten-Führers Carles Puigdemont. Junts aber fordert bisher ein Unabhängigkeitsreferendum, was Sánchez ablehnen dürfte.
Nach einer ersten vom Unterhaus abgelehnten Kandidatur würde die Uhr zu ticken beginnen: Hat das Land zwei Monate danach immer noch keine Regierung, muss eine Neuwahl ausgerufen werden. Diese müsste innerhalb der nächsten 47 Tage stattfinden, also wohl am 14. Januar. Damit hat die Entscheidung von Armengol wieder Sinn, denn es wird eine Wahl in der Weihnachts- und Silvesterzeit verhindert.
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