Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich klar gegen Bestrebungen ausgesprochen, die EU zu einer dritten Supermacht neben den USA und China zu machen. »Wer nostalgisch dem Traum europäischer Weltmacht nachhängt, wer nationale Großmachtfantasien bedient, der steckt in der Vergangenheit«, sagte der SPD-Politiker am Dienstag im Europäischen Parlament in Straßburg. Andere Länder würden sich »zu Recht nicht abfinden mit einer bi- oder tripolaren Weltordnung«, in der es nur zwei oder drei dominante Mächte gibt wie zu Zeiten des Kalten Kriegs.
Damit grenzte sich der Kanzler vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ab, der die EU zu einer dritten Supermacht zwischen China und den USA machen will und eine größtmögliche »strategische Autonomie« anstrebt.
»Europa muss sich der Welt zuwenden«
Scholz sagte dagegen: »Europa muss sich der Welt zuwenden.« Mehr Offenheit, mehr Kooperation seien das Gebot der Zeit, um Europa einen guten Platz zu sichern in der Welt von morgen. »Einen Platz, nicht über oder unter anderen Ländern und Regionen. Sondern auf Augenhöhe mit anderen, an ihrer Seite.«
Scholz wiederholte dabei auch den Grundgedanken seiner Außenpolitik, nach dem die Welt des 21. Jahrhunderts »multipolar« sein wird. Dieser hatte ihn in den ersten Monaten seiner Amtszeit nicht nur die USA und China, sondern auch in zahlreiche kleinere Länder geführt. »In Asien, Afrika und im Süden Amerikas wachsen neue wirtschaftliche, demografische und politische Schwergewichte heran«, erklärte Scholz am Dienstag.
Der Kanzler bekräftigte im EU-Parlament auch seine Forderung nach einer Reform der Entscheidungsprozesse der EU. Mit Blick auf die geplante EU-Erweiterung um Länder wie Serbien sagte er: »Es ist wirklich peinlich, dass wir vor 20 Jahren den Westbalkanstaaten eine Möglichkeit eröffnet haben, Mitglied der Europäischen Union zu werden, und dass wir heute noch nicht weiter sind.«
Grüne wollen Kanzler kämpfen sehen für Europa
In der anschließenden Debatte schlug ihm aber auch viel Kritik entgegen - selbst aus dem eigenen Ampel-Koalitionslager. »Ich wünsche mir zum Beispiel einen Kanzler, der aus den Fehlern seiner eigenen Partei gegenüber Russland gelernt hat und nicht genau die gleichen Töne gegenüber China anschlägt«, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Terry Reintke. Scholz lasse laufen, statt sich klar zu positionieren, kritisierte sie.
»Ich muss ganz ehrlich sagen, Herr Bundeskanzler, das Bild von Ihnen als Kanzler, der liefert, das ist in den letzten Monaten leider verblasst.« Sie wolle Scholz »kämpfen sehen (...) für Europa«, sagte Reintke. Die Grünen-Politikerin erhielt für solche Sätze - nicht nur aus den Reihen der Grünen - lauteren Applaus als Scholz für seine Rede.
Weber verlangt mehr Mut bei der Gestaltung Europas
Auch der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, fordert mehr Führung von Scholz. Europa benötige Orientierung aus Berlin, sagte der CSU-Politiker. »Wir brauchen keine weiteren Grundsatzreden mehr. Wir brauchen jetzt den Mut, Europa in die Zukunft zu führen.«
In Brüssel und einigen Mitgliedstaaten sind Politiker und EU-Mitarbeiter seit Monaten zunehmend frustriert über das Agieren der Bundesregierung auf europäischer Ebene. Dem Kanzler und den Ministerinnen und Ministern wird zwar attestiert, sich grundsätzlich sehr europafreundlich zu geben. Zugleich gibt es allerdings den Vorwurf, dass regierungsinterne Meinungsbildungsprozesse in Berlin viel zu lange dauern und dass an manchen Orten europäisches Einfühlungsvermögen und das Verständnis für Brüsseler Entscheidungsprozesse zu fehlen scheinen.
Scholz beklagt zunehmende Rivalität seitens Chinas
Es war die zweite große Europa-Rede des Kanzlers seit seinem Amtsantritt vor 17 Monaten. Im August vergangenen Jahres hatte er sich an der Karls-Universität in Prag für tiefgreifende Reformen eingesetzt, um die EU fit für die Aufnahme weiterer Mitglieder zu machen. Diesmal ging es darum, die EU in der Welt zu verorten.
Was China angeht, äußerte sich Scholz vergleichsweise wortkarg. Er schloss sich allerdings dem Ansatz von der Leyens an: Reduzierung der wirtschaftlichen Abhängigkeit statt Abkopplung von dem Land, das wirtschaftlich sehr eng mit Deutschland verflochten ist.
Die Beziehung zu China sei mit dem Dreiklang Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale zutreffend beschrieben - wobei aber Rivalität und Wettbewerb seitens Chinas ohne jeden Zweifel zugenommen hätten, fügte Scholz hinzu.
Kanzler: Von Putin nicht einschüchtern lassen
Den russischen Präsidenten Wladimir Putin mahnte er: Die Zukunft gehöre »nicht den Revisionisten, die vom nationalen Ruhm träumen und nach imperialer Macht lechzen.« Die Vergangenheit werde nicht über die Zukunft triumphieren.
Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine forderte Scholz die Europäer auf, sich von Putins »Machtgehabe« nicht einschüchtern zu lassen. »Bleiben wir standhaft in unserer Unterstützung der Ukraine - solange wie das nötig ist«, rief der SPD-Politiker den Abgeordneten zu. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlten derzeit mit ihrem Leben für den Wahn ihres mächtigen Nachbarstaates.
Rede am Europatag
Der Termin der Rede war mit Bedacht gewählt. Der 9. Mai ist der Europatag, mit dem an den Schuman-Plan für die Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert wird. Er wurde am 9. Mai 1950 vom damaligen französischen Außenminister Robert Schuman in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt und führte zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, einem der Vorläufer der EU.
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