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Ruhrbistum will nach Missbrauchsfällen Neuanfang

Das Ruhrbistum zählt zu den jüngsten in Deutschland und gilt als besonders volksnah und fortschrittlich. Doch auch hier sind über Jahre Hunderte Menschen missbraucht worden, wie eine Studie nachweist.

Bistum Essen
Das Bistum Essen. Wegen seiner Lage wird es auch Ruhrbistum genannt. Foto: Roland Weihrauch
Das Bistum Essen. Wegen seiner Lage wird es auch Ruhrbistum genannt.
Foto: Roland Weihrauch

»Von Beruf bin ich Elektriker, aber ohne Abschluss. Ich erzähle, warum ich es nicht geschafft habe.« So beginnt der Missbrauchsbetroffene Stephan Bertram bei einer Pressekonferenz im Bistum Essen, über sein Leben zu erzählen. Bertram arbeitete aus der Opferperspektive an einer großen Studie zum Missbrauch im Ruhrbistum mit, die jetzt vorgestellt wurde. In seinem Beruf ist der 59-Jährige seit Jahren krankgeschrieben. »Mein Leben ist für mich verkorkst«, sagt Bertram.

Das Münchener Institut IPP hat fast drei Jahre lang sämtliche Personalakten des Ruhrbistums seit seiner Gründung 1958 durchgearbeitet und zahlreiche Interviews mit Betroffenen und Kirchenoberen geführt. Fazit: Es gab nicht nur Hunderte Missbrauchsfälle im Bistum, sondern auch vielfach ein Wegschauen, ein Versetzen der Täter statt ihrer Bestrafung - und oft gab es sogar die Ausgrenzung der Opfer in den Gemeinden, wenn sie Taten meldeten. Hinter all dem liegt außerdem eine offensichtlich riesige Dunkelziffer, wie IPP-Studienleiterin Helga Dill bei der Präsentation der Ergebnisse sagte.

Täter teilweise über Jahrzehnte aktiv

423 Fälle von sexuellem Missbrauch vor allem durch Priester und Ordensleute seien bisher gemeldet worden, teilte das Bistum bei der Vorstellung der Studie mit. Die Zahl liegt damit deutlich höher als bisher bekannt. Das Bistum spricht von 201 Beschuldigten, die bis zum Februar 2023 bekannt gewesen seien - überwiegend handelt es sich um Priester aus dem Ruhrbistum und anderen Bistümern sowie um Diakone und Ordensleute verschiedener Geschlechter.

Täterkarrieren hätten sich teils über mehrere Jahrzehnte gezogen, sagte Dill. 53 Anzeigen seien erstattet worden, 33 Verurteilungen nach Kirchen- oder Strafrecht wurden registriert. 163 Betroffene hätten bereits Anträge auf Anerkennungszahlungen für ihr Leid gestellt, knapp 2,6 Millionen Euro seien ausgezahlt worden.

»Massive Versäumnisse bis hin zur aktiven Vertuschung«

»Wir müssen als Bistum ehrlich sein: Es hat in der Vergangenheit in unserer Bistumsverwaltung massive Versäumnisse bis hin zur aktiven Vertuschung gegeben«, sagte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck. Den Opfern habe das Bistum oft keinen Glauben geschenkt. Dahinter habe auch die Vorstellung gestanden, »dass zuallererst die Kirche und ihre Priester zu schützen seien«. Auch in jüngeren Jahren sei das Bistum »noch allzu oft von diesen Situationen massiv überfordert« gewesen, sagte Overbeck, der seit 2009 Bischof in Essen ist.

Die Studie hat sechs besonders spektakuläre Fälle herausgegriffen - wie den des einstigen Bottroper Kaplans H., der auch Bertram gepeinigt haben soll. Der Kaplan wurde nach Hinweisen auf seine Taten nach Essen versetzt. Sein Nachfolger in Bottrop, Kaplan P., war aber ebenfalls nachgewiesener Missbrauchstäter.

Es gebe sogar Zeugenberichte, dass der alte und der neue Kaplan sich anlässlich des Wechsels ausgetauscht hätten - womöglich über geeignete Missbrauchsopfer, berichtete Dill bei der Pressekonferenz. H. wurde später nach Bayern versetzt und erst nach zahlreichen weiteren Missbrauchstaten 2010 außer Dienst gesetzt.

Veränderung durch neue Strukturen geplant

Dass Täter so viele Jahre weitermachen und sich als »gute Pfarrer« zelebrieren konnten, während die Gemeinden alleingelassen und nicht ausreichend informiert worden seien, habe das Gemeindeleben vielfach »vergiftet«, sagte der Essener Generalvikar und Personalverantwortliche Klaus Pfeffer. Dagegen werde das Bistum nun entschieden seine Strukturen ändern.

Personalentscheidung zu Klerikern würden aus dem »Closed Shop« befreit, so dass nicht mehr nur Geistliche über Geistliche befinden. Seit dem 1. Februar habe das Bistum die Personalarbeit für Kleriker und Verwaltungsangestellte zusammengelegt und eine strikte Berichtspflicht eingeführt - keine undokumentierten Entscheidungen »auf dem kurzen Dienstweg« mehr.

Noch in diesem Jahr solle es zudem verlässliche Regeln geben, wie das Bistum etwa Therapiekosten übernehmen und auch darüber hinaus »unbürokratische Hilfen« leisten könne. »Oft stehen wir, denke ich, immer noch am Anfang«, sagte der Ruhrbischof. Das Erzbistum Freiburg habe sich etwa für eine Rente für bedürftige Missbrauchsopfer entschieden, sagte der Bischof.

Die Studie schlägt weitere Schritte zugunsten der Betroffenen vor: Künftig sollten Kirchengemeinden bei der Aufarbeitung unterstützt werden und Betroffeneninitiativen einen festen Etat für ihre Arbeit erhalten, so die Autoren. Die Kirche solle ein Netzwerk mit externen Beratungsstellen aufbauen und dabei Täter- und Betroffenenberatung strikt trennen.

Einen großen Schritt hin zu den Opfern hat die Essener Studie bereits gemacht: Es sei die erste Studie in einem deutschen Bistum mit direkter Beteiligung von Betroffenen, sagte Johannes Norpoth, der aus dem Ruhrgebiet stammt und Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz ist.

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