Wieder ein heißer Sommertag in Rostock. Erst am Abend, als der Ortsbeirat des Stadtteils Lichtenhagen zusammenkommt, regnet es leicht. Vielleicht acht, zehn Leute treffen sich im kleinen Saal des Kolping-Begegnungszentrums zur Sondersitzung: »30 Jahre Lichtenhagen«. Gemeint sind die dramatischen Ereignisse, die das Viertel 1992 weltweit bekannt machten. Der Vorsitzende Ralf Mucha ist Zeitzeuge. »Ein Lichtenhagen wie 1992 wird es nicht mehr geben«, sagt der SPD-Politiker.
Damals begann alles am 22. August, einem Samstag. Gegen 20.00 Uhr versammeln sich Hunderte Menschen vor einem Plattenbau mit Sonnenblumenmosaik, in dem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber untergebracht ist. Steine werden geworfen, später auch Brandsätze, rassistische Parolen gebrüllt. Das Ziel sind Menschen aus Osteuropa, die in der Hoffnung auf ein Asylverfahren vor dem Gebäude campieren. Und Vertragsarbeiter aus Vietnam, die im Wohnblock ein Zuhause haben. Schaulustige feuern die Gewalttäter an. Die Polizei scheint machtlos. Vier Tage lang.
Bis heute steht »Rostock-Lichtenhagen« für eine der schlimmsten rechtsextremistischen Attacken nach der deutschen Einheit. Die Stadt versucht klarzukommen mit dem Teil ihrer Geschichte, den Kritiker als Staatsversagen brandmarken, gar als erstes Pogrom auf deutschem Boden seit 1945. »Lichtenhagen gehört zur Stadtgeschichte Rostocks dazu«, sagt der amtierende Oberbürgermeister Steffen Bockhahn (Linke). Zum Jahrestag kommt am Donnerstag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Wieder rührt das Erinnern an der alten Wunde.
Eine traurige Reihe ähnlicher Attacken
Doch Lichtenhagen war damals kein Einzelfall. Es steht in einer traurigen Reihe mit Hoyerswerda, Hünxe, Mannheim, Mölln - Anschläge auf ausländische oder schlicht fremd aussehende Menschen in Deutschland. 1992 war nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung das Jahr mit den meisten bekannten rechtsextremistischen Morden: 28 Menschen sterben. Zu Jahresende stellen sich Hunderttausende mit Lichterketten gegen die Gewalt. Gestoppt ist der Rechtsextremismus damit nicht, bis heute nicht. Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge warnt sogar, dass Frust und Angst vor sozialem Abstieg in diesem Inflationsherbst rechte Demokratiefeinde nochmals stärken könnten.
Die Situation Anfang der 1990er Jahre war trotzdem sehr besonders, auch das ist klar. Der Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung, Timo Reinfrank, spricht von einer »nationalistischen Welle« nach der deutschen Vereinigung, die in einer »Explosion der Gewalt« mündete. Seine Institution ist benannt nach dem gebürtigen Angolaner Amadeu Antonio, der 1990 in Eberswalde zu Tode geprügelt wurde. Sie sieht ihre Aufgabe in der Stärkung der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Butterwegge, der damals intensiv zum Rechtsextremismus forschte, verweist auf den sozialen Umbruch im Osten, die Massenarbeitslosigkeit, das Gefühl des Ausgegrenztseins. Aber der Experte sieht auch zwei konkrete Anlässe für das aufgeheizte Klima: Die Entscheidung für Berlin als deutsche Hauptstadt 1991 - »das war das Signal für Neonazis, 'Wir sind wieder wer'« - und die Debatte über das Asylrecht unter dem Schlagwort »Das Boot ist voll«.
Unhaltbare Zustände vor der Aufnahmestelle
Knapp 440.000 Menschen suchten 1992 Asyl in Deutschland. Darunter waren viele vor den Jugoslawienkriegen Geflüchtete, auch Sinti und Roma aus Südosteuropa. Zur Zentralen Aufnahmestelle in Lichtenhagen kamen sie zu Hunderten. SPD-Mann Mucha, der auch heute in Lichtenhagen lebt, sah selbst, wie Schlepper die Flüchtlinge aus einem Transporter »auskippten« und auf das Haus wiesen. »Die hatten nichts, kein Geld, kein Essen«, erinnert er sich.
Am Rande der Ortsbeiratssitzung sagt ein Rentner aus Lichtenhagen: »So etwas darf nicht geschehen. Es war widerwärtig.« Aber oft werde nicht nach der Vorgeschichte der Ausschreitungen gefragt. Die Menschen hätten am Sonnenblumenhaus auf einer Wiese gelagert und unter Planen und Decken geschlafen, erinnert sich der Mann, der ungenannt bleiben will. Essen und Toiletten fehlten. Die Bürger in Lichtenhagen hätten gegen die Missstände demonstrieren wollen. »Der Stress ging erst los, als die Chaoten dazu kamen.«
Tatsächlich mobilisierte die Neonazi-Szene in West und Ost für die Randale in Lichtenhagen, wie Stiftungs-Geschäftsführer Reinfrank bestätigt. Auch er sagt: »Man muss sehen, dass eine unhaltbare Situation vor Ort geschaffen wurde durch die Landespolitik.« Deshalb wählt er die umstrittene Bezeichnung Pogrom - der Staat trug aus seiner Sicht eine Mitschuld.
»Massive Unterstützung der Bevölkerung«
Doch sagt Reinfrank auch: »Die Nazis haben sich nicht vorstellen können, dass es dann so eine massive Unterstützung der Bevölkerung gab.« Der heute 33-jährige Ta Minh Duc erinnert sich an die damalige Stimmung im Viertel. »Ich weiß noch, dass mich in diesem August 1992 immer mein Opa vom Kindergarten abholte«, sagte er der »Zeit«. »Auf dem Weg passierten wir oft eine Gruppe Demonstranten, die grölten: 'Ausländer raus'.« Wegen der aufgeheizten Stimmung zog die Familie zu deutschen Freunden. »Als das Sonnenblumenhaus auf dem Höhepunkt der Krawallnächte brannte, also unser Haus, waren wir zum Glück nicht drin.« Dutzende Bewohner entkamen nur mit Glück dem Inferno.
Butterwegge sieht die Gewalt gegen das scheinbar Fremde aber nicht als lokales Phänomen. »Dass die jetzt zu Hassobjekten wurden, hatte damit zu tun, dass in der DDR aber auch in der vereinigten Bundesrepublik rassistisches Denken im Alltag verankert war und ist«, sagt der 71-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Neonazis und Rechtsextreme hätten die Ereignisse von Lichtenhagen jedenfalls als riesigen Erfolg gefeiert.
Ende 1992 erklärte sich die oppositionelle SPD im Bund bereit zum sogenannten Asylkompromiss mit der Regierung Helmut Kohl: Das Grundrecht auf Asyl wurde bald darauf drastisch eingeschränkt. Die Bewerberzahlen sanken. Doch fand die rechtsextreme Gewalt andere Ziele. In schleswig-holsteinischen Mölln starben im November 1992 bei einem Brandanschlag auf zwei türkische Familien drei Menschen.
Der Ortsbeiratsvorsitzende von Lichtenhagen will die Erinnerung wachhalten, auch wenn es wehtut. Es gehe um Mahnen und Gedenken, sagt der SPD-Politiker Mucha. Die Leiterin des Begegnungszentrums Lichtenhagen, Hanka Bobsin, blickt nach vorn: »Wir wollen, dass Lichtenhagen ein liebenswerter und angenehmer Stadtteil ist, in dem es Spaß macht zu leben. Das Sonnenblumenhaus ist ein Erbe, mit dem wir uns auseinandersetzen wollen.«
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