Überschattet von Raketenangriffen auf Kiew hat UN-Generalsekretär António Guterres in der ukrainischen Hauptstadt Präsident Wolodymyr Selenskyj getroffen.
Nach seinem Besuch in Moskau besprach Guterres mit dem Regierungschef die Bildung eines Flüchtlingskorridors für die nach wochenlangen Kämpfen schwer zerstörte Hafenstadt Mariupol.
»Mariupol ist eine Krise innerhalb einer Krise, tausende Zivilisten brauchen lebensrettende Hilfe«, sagte Guterres am Donnerstag nach dem Treffen in Kiew. Sie bräuchten eine Fluchtroute, um der »Apokalypse« zu entkommen.
Mehrere Explosionen
Während des Besuchs kam es nahe des Stadtzentrums der Hauptstadt zu mehreren Explosionen. »Am Abend hat der Feind Kiew beschossen: Zwei Explosionen im Stadtbezirk Schewtschenko«, teilte Bürgermeister Vitali Klitschko auf seinem Telegram-Kanal mit. Dem Katastrophenschutz zufolge wurde ein Wohnhaus getroffen. Nach ersten Angaben der Rettungsdienste wurden zehn Menschen verletzt oder getötet. Genauere Angaben wurden nicht gemacht. Die russischen Militärs sollen fünf Raketen auf Kiew abgefeuert haben.
Russlands Militär hat Angriffe auf Kiew bestätigt. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, sagte in Moskau, Hochpräzisionsraketen mit großer Reichweite hätten Fabrikgebäude des ukrainischen Raketenherstellers »Artem« getroffen.
Russlands Militärführung hatte in dieser Woche damit gedroht, die ukrainische Hauptstadt anzugreifen, auch wenn sich dort ausländische Politiker zu Besuch aufhielten.
Der ukrainische Präsidentenberater Michail Podoljak sagte, vor kurzem noch habe Guterres im Kreml gesessen und »heute gibt es nur einen Kilometer von ihm entfernt Explosionen. Ist das ein Gruß aus Moskau?« Guterres sagte dem britischen Sender BBC später: »Ich war geschockt, davon zu hören, dass in der Stadt, in der ich mich aufhalte, zwei Raketen explodiert sind.«
Ein weiterer Präsidentenberater kritisierte die Raketenangriffe als »dümmste Variante überhaupt«. »Wie sollen der UN-Chef oder die Vereinten Nationen darauf überhaupt reagieren«, sagte Olexyj Arestowytsch. Russland habe Guterres mit diesem Angriff »in den Rücken geschossen«, sagte Arestowytsch nach Angaben der Agentur Unian weiter. »Für einen Marschflugkörper ist die Entfernung zwischen Aufschlagsort und Aufenthaltsort von Guterres etwa so viel wie zwei Millimeter für eine Pistole. Der Schuss ging also an seiner Schläfe vorbei.« Dessen ungeachtet werde Russland sicherlich weiterhin Mitglied des Weltsicherheitsrates der UN bleiben.
Guterres übt Kritik
Bei der Pressekonferenz mit Selenskyj hatte Guterres auch den UN-Sicherheitsrat kritisiert: Dieser habe nicht alles in seiner Macht Stehende getan, um den Krieg zu verhindern. »Das ist eine Quelle großer Enttäuschung, Frustration und großen Ärgers«, sagte er. Doch die UN-Mitarbeiter täten alles, um den Menschen in der Ukraine zu helfen.
Selenskyj zeigte sich nach dem Gespräch optimistisch. Nun glaube er daran, dass die Belagerung des Stahlwerks Azovstal beendet und in Mariupol ein »erfolgreiches Ergebnis« erzielt werden könne, sagte er laut der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian. »Wir erwarten von der Russischen Föderation eine humane Haltung gegenüber diesen Menschen.«
Der UN-Chef hatte eigener Darstellung zufolge am Dienstag von Kremlchef Wladimir Putin eine prinzipielle Zusage für die Beteiligung der Vereinten Nationen am Aufbau eines Fluchtkorridors erhalten. Nun gebe es intensive Beratungen dazu, wie der Vorschlag in die Realität umgesetzt werden könne. Im Stahlwerk Azovstal sind nach ukrainischen Angaben neben Soldaten und Kämpfern des nationalistischen Asow-Regiments auch bis zu 1000 Zivilisten eingesperrt.
Russland lenkt nicht ein
Russland lehnte unterdessen die Forderung nach Verhandlungen um einen Korridor für alle im Stahlwerk Eingeschlossenen ab. Putin habe es ganz klar gesagt: »Die Zivilisten können gehen und zwar in jede Richtung, die Militärs müssen rauskommen und ihre Waffen niederlegen«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Es gebe kein Thema für Verhandlungen.
Vor dem Treffen mit Selenskyj und Außenminister Dmytro Kuleba in Kiew hatte Guterres mehrere zerstörte Vororte besucht und sich dort tief betroffen gezeigt. »Ich stelle mir meine Familie in einem dieser Häuser vor, die nun zerstört und schwarz sind. Und ich sehe meine Enkeltöchter in Panik davonlaufen«, sagte er in der Kleinstadt Borodjanka.
In der durch mutmaßliche russische Gräueltaten berühmt gewordenen Stadt Butscha betonte Guterres, es sei wichtig, diesen Horror »sorgfältig aufzuklären« und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Bilder getöteter ukrainischer Zivilisten aus Butscha hatten Anfang des Monats rund um die Welt für Entsetzen gesorgt. Mehr als 400 tote Unbeteiligte wurden gefunden.
Auf die Frage der BBC, ob er daran glaube, dass der Konflikt in der Ukraine in einen Dritten Weltkrieg münden könne, sagte Guterres: »Ich glaube ernsthaft, dass ein Atomkrieg undenkbar ist. ... Und wir müssen alles tun, was möglich ist, um ihn unmöglich zu machen.«
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