Die EU will mit weiteren Sanktionen auf die Teilmobilmachung Russlands im Ukraine-Krieg reagieren. »Es ist klar, dass Russland versucht, die Ukraine zu zerstören«, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Sondertreffen der EU-Außenminister am Rande der UN-Generalversammlung in New York.
Zugleich schert Ungarn aus der EU-Sanktionsfront aus und fordert deren Aufhebung bis Jahresende. Die von Moskau angeordnete Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten könnte nach Einschätzung westlicher Militärexperten für Russland eher Probleme als Vorteile bringen.
EU strebt neue Sanktionen an
»Wir werden neue restriktive Maßnahmen sowohl auf persönlicher als auch auf sektoraler Ebene ergreifen«, sagte Borrell. Dies solle in Abstimmung mit den internationalen Partnern geschehen. Die Strafmaßnahmen würden weitere Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben, etwa auf den Technologie-Sektor. Zudem sagte Borrell, dass die Ukraine weitere Waffen erhalten solle.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilte CNN im Anschluss an ein Interview mit dem US-Sender schriftlich mit, dass es um Sanktionen gegen russische Einzelpersonen und Einrichtungen innerhalb und außerhalb Russlands sowie um zusätzliche Exportkontrollen für zivile Technologie gehe.
Ungarn will Aufhebung der Sanktionen
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban verlangt die Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland spätestens bis Ende des Jahres. Die nach dem Angriff auf die Ukraine verhängten Strafmaßnahmen gegen Moskau seien den Europäern »von den Brüsseler Bürokraten aufgezwungen« worden, sagte der Rechtspopulist nach Angaben der regierungsnahen Tageszeitung »Magyar Nemzet«. Die Sanktionen verursachten Wirtschaftsprobleme, die Energiekrise und die Inflation, erklärte er demnach weiter.
Orban pflegt ein gutes Verhältnis zum Kremlchef Wladimir Putin. Die Sanktionen der EU gegen Russland trug er bislang mit. Zugleich konnte er sich beim Ölembargo eine Ausnahmeregelung für sein Land ausbedingen. Die Sanktionsbeschlüsse der EU erfordern Einstimmigkeit unter den Mitgliedsländern.
Abgeordnete sollen sich zum Kriegsdienst melden
Russlands Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin hat die Abgeordneten der Staatsduma nach dem Befehl für eine Teilmobilmachung zur Teilnahme an dem Krieg in der Ukraine aufgerufen. »Wer den Anforderungen der Teilmobilmachung genügt, sollte mit seiner Teilnahme bei der militärischen Spezialoperation helfen«, teilte der Duma-Chef in seinem Nachrichtenkanal bei Telegram mit.
»Es gibt keinen Schutz für die Abgeordneten.« Russlands Präsident Wladimir Putin hatte am Mittwoch die Teilmobilmachung angeordnet.
300.000 Reservisten mit Kampferfahrungen sollen eingezogen werden. Der Parlamentschef reagierte damit auf die wohl in Abgeordnetenkreisen nicht seltene Auffassung, für sie gelte der Aufruf Putins zur Landesverteidigung nicht.
Zweifel an Russlands Fähigkeiten zur Teilmobilisierung
Westliche Militärexperten bezweifeln, dass Russland mit seiner Teilmobilisierung das Kriegsgeschehen in der Ukraine rasch zu seinen Gunsten wenden kann. »Russlands Teilmobilisierung wird der Ukraine nicht die Möglichkeit nehmen, mehr besetztes Gebiet bis zum und im Winter zu befreien«, so das Institute for the Study of War.
Der Militärexperte Mick Ryan schrieb auf Twitter, die russischen Truppen seien nach acht Monaten im Kampfeinsatz erschöpft.
Das britische Verteidigungsministerium meinte, Russland werde wahrscheinlich mit logistischen und administrativen Herausforderungen zu kämpfen haben, die 300.000 Soldaten auch nur zu mustern. In der Hoffnung, Kampfkraft zu generieren, gehe Präsident Wladimir Putin ein beträchtliches politisches Risiko ein.
Nach Protesten noch mehr als 1300 Menschen in Haft
Nach Protesten gegen die Teilmobilmachung in Russland hat die Polizei am Donnerstagmorgen Bürgerrechtlern zufolge noch mehr als 1300 Menschen in Gewahrsam gehalten. Allein in der Hauptstadt Moskau waren es etwa 530 Protestler, in Sankt Petersburg 480, wie das Bürgerrechtsportal OVD-Info auflistete.
Von staatlicher Seite gab es keine Angaben zu den Protesten. Bei den ersten größeren Kundgebungen der russischen Anti-Kriegs-Bewegung seit März waren am Mittwoch in vielen Städten junge Leute auf die Straße gegangen, darunter viele Frauen, die um das Leben ihrer Männer, Brüder und Söhne fürchten.
Selenskyj fordert vor Vereinten Nationen Bestrafung Russlands
»Es wurde ein Verbrechen gegen die Ukraine begangen, und wir fordern ein Bestrafung«, sagte Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft vor der UN-Vollversammlung in New York. Russland müsse bestraft werden für das Morden, die Folter, die Erniedrigungen und die desaströsen Turbulenzen, in die es die Ukraine gestürzt habe.
Dazu gehörten internationale Sanktionen. Moskau müsse aber auch in internationalen Organisationen isoliert werden. Außerdem müsse ein Sondertribunal eingerichtet werden, um Russland für Verbrechen in dem Krieg zur Rechenschaft zu ziehen. Selenskyj forderte auch weitere Visarestriktionen für russische Bürger. Sie sollten nicht zum Einkaufen oder Urlaub in andere Länder reisen können. Die Ukraine will Selenskyj zufolge auch einen internationalen Entschädigungsmechanismus durchsetzen. »Russland sollte für diesen Krieg mit seinem Vermögen bezahlen«, sagte er.
Guterres, Türkei kritisieren Scheinreferenden
UN-Generalsekretär António Guterres sieht derweil die von Russland unterstützten Referenden in mehreren Gebieten der Ostukraine als möglichen Bruch des Völkerrechts. »Jede Annexion des Hoheitsgebiets eines Staates durch einen anderen Staat aufgrund der Androhung oder Anwendung von Gewalt ist eine Verletzung der UN-Charta und des Völkerrechts«, sagte Guterres bei einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates zum Ukraine-Krieg.
Auch die Türkei verurteilte Russlands Vorhaben. »Wir sind besorgt über Versuche, in einigen Regionen der Ukraine einseitige Referenden durchzuführen«, hieß es aus dem Außenministerium. Solche »illegitim beschlossenen Tatsachen« würden von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt. »Im Gegenteil, sie werden die Bemühungen um eine Wiederbelebung des diplomatischen Prozesses erschweren und die Instabilität vertiefen.« Die Türkei stehe für die »territoriale Unversehrtheit, Unabhängigkeit und Souveränität« der Ukraine.
Briten nach Gefangenenaustausch wieder in der Heimat
Fünf Briten sind nach Monaten in der Kriegsgefangenschaft prorussischer Separatisten in der Ostukraine in die Heimat zurückgekehrt. Die Männer seien am Donnerstag auf dem Flughafen London-Heathrow gelandet, berichtete die BBC. Dort hätten sie dann auch ihre Familien wiedergesehen. Sie freuten sich »nach dieser schrecklichen Tortur auf die Normalität mit ihren Familien«, sagte Dominik Byrne von der Organisation Presidium Network, die die Angehörigen unterstützt.
In einem im Flugzeug aufgenommenen Video sagte einer der Männer, der in einem Schauprozess von den Separatisten wegen Söldnertum zum Tode verurteilt worden war: »Wir sind noch einmal davongekommen.«
Selenskyjs will Sondertribunal - EU-Kommission zurückhaltend
Die EU-Kommission hat zurückhaltend auf die ukrainische Forderung nach einem Sondertribunal wegen des russischen Angriffskriegs reagiert. »Diejenigen, die für die in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte ein Sprecher der Behörde in Brüssel. Die Kommission setzt seinen Worten zufolge aber zunächst auf die Unterstützung der ukrainischen Strafjustiz, um »die in der Ukraine begangenen Gräueltaten« aufzuarbeiten.
Auf internationaler Ebene sei es wichtig, zuerst den »bestehenden Rahmen zu nutzen, insbesondere den Internationalen Strafgerichtshof«. Man ermutige die Ukraine, das Römische Statut - den Grundlagenvertrag des Gerichts - zu ratifizieren, sagte der Sprecher weiter. Das würde es dem Internationalen Strafgerichtshof ermöglichen, das Verbrechen der Aggression zu verfolgen.
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