Nach Beginn einer Teilmobilmachung in Russland fliehen Männer im wehrfähigen Alter in Scharen ins Ausland, um sich vor einem drohenden Einsatz im Ukraine-Krieg in Sicherheit zu bringen.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit seiner Anordnung am Mittwoch, nach militärischen Rückschlägen 300.000 Reservisten zu mobilisieren, in vielen Familien Panik ausgelöst. Die an Russland grenzende zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik Kasachstan berichtete über vermehrte Einreisen aus Russland. Zuvor hatten etwa auch die Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Georgien im Südkaukasus über massenhafte Einreisen gesprochen. Flüge sind über Tage ausgebucht und mit mehreren Tausend Euro so teuer, dass es sich viele schlicht nicht leisten können.
Die Ziele in früheren Sowjetrepubliken sind besonders beliebt, weil Russen dort kein Visum brauchen. Außerdem ist die russische Sprache verbreitet. Auch die Türkei ist ein Ziel für Kriegsdienstverweigerer. Von den EU-Staaten, die an Russland grenzen, ließ vor allem Finnland noch Russen einreisen. Allerdings nur mit einem Schengen-Visum.
In den von Moskau besetzten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine haben die Scheinreferenden über einen Beitritt der Regionen zur Russischen Föderation begonnen. Der Kreml geht von einem Ja für einen Beitritt aus und hat eine rasche Annexion der Gebiete angekündigt. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Auch eine freie Arbeit internationaler unabhängiger Beobachter ist nicht möglich.
Selenskyj zu Russen: »Protestiert! Kämpft! Lauft weg!«
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief die Russen in seiner täglichen Videobotschaft am Donnerstag dazu auf, gegen die Mobilisierung zu protestieren und sich der Einberufung zu entziehen. »Protestiert! Kämpft! Lauft weg! Oder begebt Euch in ukrainische Kriegsgefangenschaft! Das sind die Varianten für Euch zu überleben«, sagte er in seiner auf Russisch gehaltenen Ansprache. Mit einem Appell wandte sich Selenskyj an die Mütter und Ehefrauen der Einberufenen: »Zweifelt nicht daran, dass die Kinder der Führung Eures Staats nicht am Krieg gegen die Ukraine teilnehmen. Diejenigen, die die Entscheidungen in Eurem Land treffen, schützen ihre Kinder. Und Eure Kinder werden nicht einmal beerdigt.«
Kreml will ukrainische Gebiete rasch annektieren
Der Kreml geht bei den Scheinreferenden von einem Ja für einen Beitritt zu Russland aus und hat eine rasche Annexion der Gebiete angekündigt. Beobachter in der Ukraine gingen davon aus, dass sich überwiegend nur Befürworter eines Anschlusses an Russland an der mehrtägigen Abstimmung beteiligten. Das Verfahren für eine Aufnahme der Regionen könne schnell gehen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Nachrichtenagenturen zufolge am Freitag. Zugleich betonte er, dass dann Versuche der Ukraine, sich die Gebiete zurückzuholen, als ein Angriff auf die Russische Föderation gewertet würden. Kremlchef Wladimir Putin hatte bereits erklärt, die Gebiete mit allen Mitteln zu verteidigen. Russland verfügt über ein großes Arsenal an Atomwaffen.
G7 verurteilen Scheinreferenden und Teilmobilisierung
Die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7) haben die Scheinreferenden aufs Schärfste verurteilt. Zudem drückten sie ihr Bedauern über die Teilmobilisierung der Streitkräfte in Russland aus. Die Scheinreferenden dienten als »falscher Vorwand«, um den Status von souveränem ukrainischem Territorium zu verändern, das russischer Aggression zum Opfer gefallen sei, erklärten sie. »Diese Aktionen sind ein klarer Bruch der Charta der Vereinten Nationen und des internationalen Rechts«, hieß es weiter.
Die von Russland und seinen Stellvertretern begonnenen Scheinreferenden hätten keinerlei Legitimität. Das russische Vorgehen missachte die »demokratischen Normen« mit seiner »offenen Einschüchterung der örtlichen Bevölkerung«. Die Abstimmungen spiegelten nicht den Willen des ukrainischen Volkes wider, das sich beständig den russischen Versuchen widersetzt habe, Grenzen mit Gewalt zu ändern. »Wir werden diese Referenden niemals anerkennen«, versicherten die Staats- und Regierungschefs. Auch eine zu erwartende Annexion der Gebiete werde man niemals akzeptieren.
Behörden schließen Exhumierungen in Isjum ab
In der kürzlich von ukrainischen Truppen zurückeroberten östlichen Stadt Isjum stehen die Exhumierungen in einem Waldstück mit mehr als 400 neuen Gräbern vor dem Abschluss. »Insgesamt wurden 436 Leichen gefunden«, teilte der Gouverneur des Gebiets Charkiw, Oleh Synjehubow, im Nachrichtendienst Telegram mit. Von diesen sei die Mehrzahl eines gewaltsamen Todes gestorben. 30 Leichen wiesen Folterspuren auf, erklärte er weiter. Der Verkehrsknotenpunkt Isjum war ukrainischen Angaben nach vom 1. April bis zum 10. September von russischen Truppen besetzt gewesen.
Gouverneur Synjehubow erklärte, es habe Tote gegeben, die eine Schlinge um den Hals geschnürt hatten, es habe gefesselte Hände, gebrochene Gliedmaßen und Schusswunden gegeben. »Bei einigen Männern sind die Genitalien amputiert worden«, schrieb Synjehubow. Die Mehrzahl der Toten seien Zivilisten gewesen, aber auch 21 Soldaten seien dort begraben worden.
Treffen zwischen Baerbock und Lawrow geplatzt
Ein anvisiertes Treffen zwischen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und dem russischen Chefdiplomaten Sergej Lawrow in New York ist geplatzt. »Nachdem sie ihre Anfragen zu Verhandlungen mit Sergej Lawrow am Rande der UN-Vollversammlung gestellt und von der russischen Seite einen Terminvorschlag bekommen haben, sind die EU-Delegationen vom Radar verschwunden«, kritisierte die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa auf ihrem Telegram-Kanal.
Dabei bezog sich die 46-Jährige offenbar auch auf ein angebahntes Gespräch zwischen Baerbock und Lawrow. Im Vorfeld der Generaldebatte in New York habe es Kontakte zwischen den Delegationen vor Ort gegeben. Es sei um die Möglichkeit eines Gespräch von Baerbock mit ihrem russischen Amtskollegen zur Sicherheit des Atomkraftwerks Saporischschja gegangen, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur dazu aus diplomatischen Kreisen. Das Treffen kam nicht zustande.
UN-Report zu russischen Kriegsverbrechen
Eine UN-Untersuchungskommission hat eigenen Angaben zufolge verschiedene russische Kriegsverbrechen in der Ukraine festgestellt. Die Experten haben unter anderem sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalttaten mancher russischer Soldaten dokumentiert, wie der Kommissionsvorsitzende Erik Møse in einem ersten mündlichen Zwischenbericht erklärte. Die Opfer dieser Verbrechen seien zwischen 4 und 82 Jahre alt, sagte er im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf. Es sei aber nicht festgestellt worden, dass sexueller Missbrauch systematisch als Kriegstaktik eingesetzt worden sei. Die Kommission hob auch hervor, dass russische Einheiten entgegen dem Kriegsvölkerrecht die ukrainische Zivilbevölkerung angegriffen hatten. Weiterhin betonten die Ermittler, dass nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder gefoltert, getötet und vertrieben wurden. »Aufgrund der gesammelten Beweise kommt die Kommission zu dem Schluss, dass Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen worden sind«, sagte Møse.
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