Das russische Militär hat nach eigenen Angaben die strategisch wichtige Kleinstadt Lyman im ostukrainischen Donbass-Gebiet erobert.
Das russische Verteidigungsministerium meldete am Samstag die vollständige »Befreiung« der Stadt durch Einheiten der selbst ernannten Donezker Volksrepublik und der russischen Streitkräfte. Auch der ukrainische Generalstab gestand am Samstag indirekt den Fall der Stadt ein.
Der 20.000-Einwohner-Ort Lyman in der von den prorussischen Separatisten beanspruchten Region Donezk ist als Eisenbahnknoten und Straßenverbindung zu den nahegelegenen Ballungsräumen Sjewjerodonezk - Lyssytschansk und Slowjansk - Kramatorsk wichtig. Letzteres Areal gilt als eines der Zentren des Donbass sowie der ukrainischen Armeeeinheiten im Osten des Landes. Die ukrainische Armee steht fast überall im äußersten Osten ihrer Front gegen die russischen Invasionstruppen stark unter Druck.
Scholz und Macron telefonieren mit Putin
Der russische Präsident Wladimir Putin hat bei einem Telefonat mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) und mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron vor der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gewarnt. Das berge das Risiko einer weiteren Destabilisierung der Lage und der Verschärfung der humanitären Krise, sagte Putin einer am Samstag vom Kreml veröffentlichten Mitteilung zufolge. Scholz und Macron forderten in dem 80-minütigen Gespräch erneut ein Ende des Krieges, wie der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, mitteilte.
»Der Bundeskanzler und der französische Präsident drängten dabei auf einen sofortigen Waffenstillstand und einen Rückzug der russischen Truppen«, teilte Hebestreit mit. »Sie riefen den russischen Präsidenten zu ernsthaften direkten Verhandlungen mit dem ukrainischen Präsidenten und einer diplomatischen Lösung des Konflikts auf.« Ausführlich sei es bei den Telefonat auch um die Lebensmittelsicherheit in der Welt gegangen, teilte der Kreml mit. Scholz und Macron beklagten nach Angaben der Bundesregierung die gespannte Lage auf dem globalen Lebensmittelmarkt.
Ukraine: Sanktionen nicht ursächlich für Nahrungsmittelkrise
Die Ukraine hat Russland erneut mit Nachdruck widersprochen, dass westliche Strafmaßnahmen gegen Moskau der Grund für die aktuelle mangelnde Lebensmittelsicherheit in der Welt seien. »Sanktionen gegen Russland haben nichts mit der sich abzeichnenden globalen Nahrungsmittelkrise zu tun«, teilte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Samstag per Twitter mit.
»Der einzige Grund für Engpässe, steigende Preise und drohenden Hunger ist, dass das russische Militär 22 Millionen Tonnen ukrainischer Lebensmittelexporte in unseren Seehäfen physisch blockiert«, betonte Kuleba. Der Westen müsse Russland mit Druck dazu bringen, die Blockade zu beenden.
Ukraine: Brauchen Mehrfachraketenwerfer mit hoher Reichweite
Die Ukraine hat den Westen zur Lieferung fortschrittlicher Mehrfachraketenwerfer mit hoher Reichweite für den Kampf gegen Russland aufgefordert. »Wenn der Westen wirklich den Sieg der Ukraine will, ist es vielleicht Zeit, uns MLRS zu geben?«, teilte Mychajlo Podoljak, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, am Samstag auf Twitter mit. MLRS sind in den USA hergestellte Artilleriesysteme.
»Es ist schwer zu kämpfen, wenn man aus einer Entfernung von 70 Kilometern angegriffen wird und nichts hat, womit man sich wehren kann«, meinte Podoljak. Die Ukraine könne Russland »hinter den Eisernen Vorhang« zurückbringen. »Aber dafür brauchen wir wirksame Waffen. Hier und jetzt.«
Selenskyj: Die Lage ist sehr schwierig
Selenskyj bezeichnete die Lage im Donbass angesichts russischer Angriffe als sehr schwierig. Moskau setze dort ein Maximum an Artillerie und Reserven ein, sagte Selenskyj in einer Videoansprache. Die ukrainische Armee verteidige das Land mit allen derzeit verfügbaren Ressourcen. »Wir tun alles, um die Armee zu stärken«, versicherte der Präsident. Was die derzeit heftig umkämpften Orte im Donbass angeht, zeigte sich Selenskyj kämpferisch. »Wenn die Okkupanten denken, dass Lyman und Sjewjerodonezk ihnen gehören werden, irren sie sich. Der Donbass wird ukrainisch sein.« Wenn Russland Zerstörung und Leid bringe, werde die Ukraine jeden Ort wiederherstellen. Dort werde nur die ukrainische Fahne wehen - und keine andere, betonte Selenskyj.
Cherson schließt Grenze zu ukrainisch kontrolliertem Gebiet
Das von russischen Truppen besetzte Gebiet Cherson im Süden der Ukraine hat die Grenze Richtung Norden für Flüchtlinge geschlossen. »Der Grenzübergang in Richtung der Gebiete Mykolajiw und Dnipropetrowsk ist angesichts des systematischen Beschusses vonseiten ukrainischer Kämpfer sehr gefährlich«, erklärte der Vizechef der prorussischen Militärverwaltung, Kirill Stremoussow. Ausreisen aus dem Gebiet Cherson seien stattdessen über die Halbinsel Krim oder den russisch kontrollierten Teil des Gebiets Saporischschja möglich.
Die neue Verwaltung hat zahlreiche Initiativen unternommen, das Gebiet Cherson von der Ukraine abzuschneiden und an Russland anzubinden. So wurde die russische Landeswährung Rubel eingeführt, die Administration hat die Ausgabe russischer Pässe gefordert und den Eintritt des Gebiets in die Russische Föderation - selbst ohne vorheriges Referendum.
Habeck weist Vorwurf mangelnder Ukraine-Hilfe zurück
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) weist den Vorwurf zurück, Deutschland sei zu zurückhaltend bei der Hilfe für die Ukraine. Er sagte der »Welt am Sonntag«: »Während wir reden, werden gerade ukrainische Soldaten an der Panzerhaubitze 2000 ausgebildet.« In Kürze werde Deutschland diese Waffen in die Ukraine liefern. »Es ist also keineswegs so, dass Deutschland nichts oder zu wenig liefert.« Richtig sei, dass Berlin nicht alle Wünsche der Ukraine erfüllen könne. »Daraus entsteht ein gewisses Spannungsverhältnis«, meinte Habeck.
Getreidekrise als Folge des Krieges
Der britische Premierminister Boris Johnson sicherte dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in einem Telefonat am Samstag zu, mit westlichen Partnern nach Lösungen zu suchen, um gegen die russische Exportblockade von Getreide aus der Ukraine vorzugehen und damit eine globale Hungersnot abzuwenden. Johnson und Selenskyj seien sich einig, dass Russland diese Blockade aufgeben und sichere Schiffsrouten gewährleisten müsse, hieß es aus der Downing Street.
Weil das Getreide aktuell nicht exportiert werden kann, stehen vor allem ärmere Importländer etwa in Afrika vor einer großen Lebensmittelkrise. Putin hatte am Donnerstag mit Draghi telefoniert und dabei gefordert, dass der Westen seine Sanktionen gegen Russland aufhebe. Dann sei Moskau auch bereit, Schiffe mit Getreide und Dünger aus den Häfen am Schwarzen Meer wieder passieren zu lassen.
Angesichts der Knappheit von Kraftstoffen in der Ukraine habe er sich mit Johnson auch über die Energielieferungen unterhalten, teilte Selenskyj mit. Viele Ukrainer klagen seit Wochen, dass es an den Tankstellen kein Benzin mehr gibt.
Kremlkritiker drängt Westen zu Lieferung schwerer Waffen
Der Kremlkritiker Michail Chodorkowski drängt den Westen zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. »Wenn den Ukrainern die Waffen, die sie anfordern, nicht geliefert werden, wird es bald wieder zu Kämpfen um Kiew kommen«, sagte der 58-Jährige der »Bild« (Samstag). Er denke, westliche Politiker hätten vor allem Angst vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. »Sie glauben, sich nicht in einem Krieg zu befinden.« Chodorkowski bezeichnete dies als »sehr dumme Haltung«, da sich westliche Politiker und Länder aus Putins Sicht bereits im Krieg mit Russland befänden.
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