Es ist eine gute Nachricht: Die Sicherheit beim Betrieb von Europas größtem Kernkraftwerk Saporischschja wird nun von Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) überprüft. IAEA-Chef Rafael Grossi kündigte den wichtigen und lange umstrittenen Trip in das ukrainische Kriegsgebiet mit deutlicher Erleichterung an.
»Der Tag ist da. Die IAEA-Unterstützungs-Mission ist nun auf dem Weg«, schrieb der selbstbewusste 61-jährige argentinische Diplomat auf Twitter. Er sei stolz, die Mission anzuführen. Damit scheint eine Gefahr zunächst gebannt, die ganz Europa zuletzt zittern ließ - ein durch Beschuss außer Kontrolle geratenes Atomkraftwerk.
Die US-Regierung begrüßt die Inspektion durch Experten-Team. Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, sagte am Montag: »Wir freuen uns, dass das Team auf dem Weg ist, um die Sicherheit und den Schutz der dortigen Systeme zu überprüfen und die Arbeitsbedingungen des Personals zu evaluieren.« Er appellierte an Russland, den Inspektoren einen sicheren und ungehinderten Zugang zu gewähren.
Erneut plädierte Kirby dafür, eine entmilitarisierte Zone rund um das Kraftwerk einzurichten. »Ein Kernkraftwerk ist kein geeigneter Ort für Kampfhandlungen«, mahnte er.
Trip als Chefsache
Eine Schuldzuweisung, ob Russen oder Ukrainer die Anlage in den vergangenen Wochen beschossen haben, ist von der UN-Behörde nicht zu erwarten. Es geht nach bisherigen Ankündigungen bei der Mission rein um die Analyse der Schäden und um die Erhöhung der Sicherheit. Dass Grossi, der das Rampenlicht nicht scheut, selbst an der Spitze des insgesamt 14-köpfigen Teams mitreist, ist ungewöhnlich - und ein Signal an alle intern wie extern: Das Ganze ist Chefsache.
Dabei wird ein Grund für den späten Start der Mission bei den UN in New York auch bei der IAEA gesehen. Dass Grossi sich als Leiter des Teams ins Spiel gebracht hat, erschwerte dem Vernehmen nach die Verhandlungen hinter den Kulissen. Statt Reisen hoher Offizieller - mit etwaigem Geltungsdrang - wäre eine Fach-Expedition von Beamten wohl weniger problematisch gewesen.
UN-Generalsekretär António Guterres machte obendrein zuletzt öfter deutlich, dass es keine Mission geben werde, die nicht von ukrainischem Gebiet aus starte. Eine andere Route hätte den Vereinten Nationen als Verletzung des ukrainischen Hoheitsgebiets ausgelegt werden können - weil Kiew strikt gegen eine IAEA-Reise war, die nur über russisches oder russisch kontrolliertes Gebiet zum AKW gelangt.
Ohne jeden Zweifel ist die IAEA eine der besten Adressen, was die Überprüfung des sicheren Betriebs eines Atomkraftwerks angeht. Wohl keine andere Organisation verfügt über so viel Erfahrung bei Fragen rund um die etwa 450 Reaktoren in den Atomkraftwerken dieser Welt. Die IAEA unterstützt seit Jahrzehnten die Betreiber bei Sicherheitsfragen und überwacht im zivilen Bereich zugleich die Verwendung des nuklearen Materials. In die Schlagzeilen geriet die IAEA in den vergangenen Jahren wegen ihrer zentralen Rolle bei der Überwachung des iranischen Atomprogramms.
Positive Signale aus Moskau und Kiew
Ein Hoffnungszeichen sind auch die demonstrativen Unterstützungssignale aus Moskau und Kiew. Russland sei an der IAEA-Mission interessiert und an deren Vorbereitung beteiligt gewesen, bestätigte Kremlsprecher Dmitri Peskow. »Russland ist offen für eine Zusammenarbeit.« Was die von Russland kontrollierten Gebiete betreffe, so werde den Experten die notwendige Sicherheit garantiert, sagte er.
Für Moskau ist der Besuch vor allem aus Imagegründen wichtig. Die russische Seite will ihn nutzen, um sich als verantwortungsvoller Nutzer und Betreiber der Nuklearanlage zu präsentieren. Das soll der Besetzung des im Süden der Ukraine gelegenen Atomkraftwerks durch die russischen Truppen Legitimität verschaffen. Es besteht wenig Zweifel, dass im Staatsfernsehen die demnächst zu erwartenden Bilder der internationalen Atomexperten auf dem Gelände des AKW entsprechend ausgeschlachtet werden.
Zugleich geht es Moskau darum, Kiew die Verantwortung für den Beschuss der Anlage anzulasten. In den vergangenen Wochen gaben sich beide Seiten immer wieder die Schuld für die Eskalation. Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa sprach in dem Zusammenhang von Atomterrorismus, der von der Ukraine betrieben werde.
Kiew wiederum nutzt die internationale Aufmerksamkeit rund um das Atomkraftwerk, um mit Nachdruck an den Krieg im Land zu erinnern. Dabei verbindet die Ukraine mit dem Besuch Hoffnungen, eine Entmilitarisierung des Kraftwerks als Vorstufe für die Rückkehr der ukrainischen Oberhoheit zu erreichen.
Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte Kiews Ziel vergangene Woche so: »Man muss auf Russland Druck ausüben, ihnen Ultimaten von der internationalen Gemeinschaft stellen, dass sie abziehen sollen, die Technik, Bomben, Waffen und Leute wegbringen sollen, die nicht genau verstehen, was dort vor sich geht und nichts mit der Atomenergie zu tun haben.«
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