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Frank-Walter Steinmeier - Tage in Altenburg

Frank-Walter Steinmeier startet in seine zweite Amtszeit und wählt dafür ausgerechnet eine Reise in die Provinz - ganz bewusst. Der Bundespräsident hat eine Mission.

Steinmeier in Altenburg
Am Bratwurststand von Thomas Böse gibt es eine Thüringer für Frank-Walter Steinmeier. Foto: Kristin Schmidt
Am Bratwurststand von Thomas Böse gibt es eine Thüringer für Frank-Walter Steinmeier.
Foto: Kristin Schmidt

Als die Staatskarosse mit dem Kennzeichen 0-1 auf dem Marktplatz von Altenburg hält, wartet eine kleine Menschenmenge auf den Bundespräsidenten. Vielleicht 30, 40 Leute. Und tatsächlich: Sie klatschen.

Frank-Walter Steinmeier geht auf die Leute zu, ein Schüler will ein Foto mit ihm. »Es wäre mir eine große Ehre«, sagt der Jugendliche.

Damit ist der Ton gesetzt für diese drei Tage in der ostthüringischen Stadt. Später wird Steinmeier sagen: »Ich freue mich über den freundlichen Empfang, den ich hier in dieser Stadt genieße.« Ganz sicher war er sich wohl nicht, wie das hier ablaufen würde.

Altenburg, Kreisstadt im Altenburger Land, knapp 32.000 Einwohner, eigentlich bekannt für die Erfindung des Skat-Spiels, hat zuletzt eher negative Schlagzeilen gemacht. Immer wieder montags gingen Hunderte »spazieren« gegen staatliche Corona-Maßnahmen. CDU-Oberbürgermeister André Neumann hat von E-Mails berichtet, die ihm drohten, dass man ihn am Tag X mitsamt Familie auf dem Markt hängen würde.

Die Jungen ziehen weg

Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD mit rund 28 Prozent der Stimmen stärkste Partei im Wahlkreis. 6000 Wohnungen stehen leer, der Landfrauenverein klagt über Nachwuchsmangel, genauso der örtliche Möbelhändler. Die Jugendlichen wiederum finden, dass nichts los ist, dass man hier noch nicht einmal richtig einkaufen kann. Sie ziehen weg nach Leipzig, Berlin, Mannheim.

Erst Corona, jetzt der Schock des Ukrainekriegs, die vielen Flüchtlinge, schon wieder Krise. Steinmeier will dieser Gesellschaft im Dauerstress »den Puls messen«, wie er vor seiner Abreise nach Altenburg sagt. Raus aus dem Berliner Schloss Bellevue, hinaus ins Land, bewusst in eine Kleinstadt, bewusst nach Ostdeutschland, wo sich viele Menschen ignoriert fühlen. Drei Tage widmet Steinmeier dieser »Ortszeit Deutschland« zu Beginn seiner zweiten Amtszeit.

Präsident trifft auf echtes Leben, das ist nicht ganz einfach in diesen Zeiten, nicht nur wegen der Pandemie. Um ihn herum Sicherheitsbeamte und Referenten, natürlich unverzichtbar. Und Steinmeier weiß, dass er nicht als einfacher Mitbürger wahrgenommen wird, als Nachbar oder Kumpel. Es kommt ein Mann mit Staatsamt. Aber gemessen daran, gelingt dem 66-Jährigen die Balance zwischen Nähe und Distanz erstaunlich gut.

Ein Teil seiner Kontakte in Altenburg sind geladene Gäste - ehrenamtlich Engagierte zum Beispiel, wie der Organisator des »Skatstadt«-Marathons, Helmut Nitschke. »Ich muss mal sagen, ich habe mich ja bis vor einer halben Stunde für einen coolen Hund gehalten, aber jetzt so dazusitzen, sogar neben dem Bundespräsidenten, das lässt mein Herz doch ein bissl höher schlagen«, sagt Nitschke am Samstagmorgen bei einem Frühstückstermin mit Steinmeier. »Das ist schon was Besonderes.«

Steinmeier moderiert freundlich, er kennt die Vorgeschichte dieser Gäste, die stolz sind auf ihre Stadt, aber auch in Sorge über Abwanderung und Überalterung, über digital sedierte Jugendliche, über den Zulauf Rechtsradikaler bei den »Spaziergängen«. Nachmittags, bei einer »Kaffeetafel kontrovers« ist dann auch eine Frau, die »Spaziergänge« organisiert hat, aus Sorge um ihr Kind und andere, die aus ihrer Sicht unter dem Maskenzwang leiden.

Steinmeier widerspricht, wirbt für die staatlichen Maßnahmen. Die »Spaziergängerin« zeigt sich trotzdem angetan. Alle scheinen einfach froh, dass ihnen jemand zuhört.

Das gilt auch für die Kommunalpolitiker, mit denen sich Steinmeier am Sonntagmorgen trifft. Die Debatte kreist um die Unterbringung von Ukraine-Flüchtlingen, die finanzielle Unterstützung von Land und Bund.

Misstrauen bei den Menschen

Dann ergreift Peter Müller das Wort, Stadtrat der Partei Pro Altenburg, mit einem Thema, das nichts mit Geld zu tun hat, wie er sagt: die Glaubwürdigkeit der Politik, genauer, der etablierten Parteien. »Der normale Mensch wendet sich ab«, sagt Müller. Nur neue Parteien wie seine fänden noch Zuspruch. »Das kann doch alles nicht mehr so gutgehen, Herr Bundespräsident.«

Auch hier kontert Steinmeier. Man könne über alles diskutieren, aber bitte ohne Unterstellungen, dass man es nicht ehrlich meine. »Dann lassen wir Demokratie auch auf der kommunalen Ebene erodieren«, warnt der Präsident.

Das Misstrauen »der Menschen« ist bei Steinmeiers Zufallsbegegnungen in Altenburg kaum zu spüren. Der Präsident geht vom Parkhotel, wo er für drei Tage seinen Amtssitz hat, zu Fuß in die prächtig erhaltene Altstadt mit Gässchen und Plätzchen. Eine Frau winkt ihm aus dem Fenster zu - es wirkt echt.

Dutzende wollen Fotos und Selfies, mal eben kurz, ginge das? Steinmeier scheint zu allem bereit, er lacht in die Handykameras. Oberbürgermeister Neumann, der ihn drei Tage quasi nonstop durch Altenburg begleitet, wirkt als Eisbrecher, den »André« kennt scheinbar jeder.

Eine Thüringer mit Senf

Am Bratwurststand am Marktplatz kauft Neumann dem Präsidenten eine Thüringer, mit Senf - kein kleines Risiko für Steinmeier in blauem Anzug und schwarzem Mantel. Aber es geht gut. »Und sonst?«, fragt er die Männer am Stehtisch. »Wir Rentner sind zufrieden«, sagt einer. Der Unmut über die Großkopferten in Berlin, die blöden Politiker - vergessen offenbar, wenn da leibhaftig einer vor einem steht. »Tschüss, macht's gut«, ruft Steinmeier den Männern zum Abschied zu.

Wer Steinmeier als steingrauen Spitzenbeamten unter Kanzler Gerhard Schröder in Erinnerung hat, als den hölzernen Kanzlerkandidaten 2009, als Außenminister mit abgehobenem Diplomatendeutsch, darf sich ein bisschen wundern über diese Wandlung zu einer Art Volkstribun. Klar, auch Steinmeier war wegen der Pandemie zwei Jahre isoliert in seinem Schloss, mit viel weniger Kontakten als sonst, so wie alle anderen. Er freut sich ganz offensichtlich, wieder Menschen zu sehen.

Aber er hat sich diesen Besuch zu Beginn seiner zweiten Amtszeit auch als Mission gewählt: Er will ein Schlaglicht werfen auf die oft vergessene Provinz, auf die ostdeutsche zumal, die sich müht, lebenswert zu bleiben in Zeiten des Umbruchs. Der Präsident hat ein Thema gesetzt für die nächsten fünf Jahre.

© dpa-infocom, dpa:220320-99-599625/4