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Deutschlands Denker und der Krieg: Ratschläge für Scholz

Wenn diejenigen, die in Sicherheit auf dem Sofa sitzen, Menschen Ratschläge geben, zu deren Alltag Luftalarm und Raketeneinschläge gehören, kann eine Debatte leicht eine Unwucht erhalten. Da kommt viel zusammen: Moral, Wut und die Angst vor einem Atomkrieg.

Jürgen Habermas
»Westen (...) muss bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet«: Philosoph Jürgen Habermas. Foto: Arne Dedert
»Westen (...) muss bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet«: Philosoph Jürgen Habermas.
Foto: Arne Dedert

Ist der Kanzler besonnen, oder zaudert er bloß? Ist der russische Präsident ein unberechenbarer Imperialist mit dem Finger auf dem Atomknopf oder ein kühl kalkulierender Machthaber, der geschickt mit der Angst westlicher Politiker vor einem Dritten Weltkrieg spielt?

Nach Wochen der Schockstarre beteiligen sich seit einigen Tagen nun auch verstärkt Deutschlands Dichter, Denker, Kabarettisten, Autorinnen, Fernsehmoderatoren, Musiker und Schauspieler an der Debatte darüber, wie der Westen im Allgemeinen und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Speziellen auf den russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine angemessen reagieren sollte.

Deutsche Debatte

Es ist eine deutsche Debatte, die es in dieser Form in anderen EU-Staaten so nicht gibt. Die Wortführer auf der Seite der Mahner gehören zu einem großen Teil der Generation der Über-70-Jährigen an. Es sind Menschen, die noch eigene Erinnerungen an die Nachkriegszeit haben, manche haben den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt, die Krisen der Zeit des Kalten Krieges sind ihnen noch präsent. Dass sie deshalb besser wissen, welche Waffen, Munition und militärische Ausbildung Deutschland den Ukrainern zur Verfügung stellen sollte, ohne dadurch eine weitere Eskalation zu provozieren, muss das aber nicht bedeuten.

Manchmal könne die aus historischen Erfahrungen, auch in der Familie, gespeiste Angst wohl auch den Blick trüben, räumt Katja Lange-Müller ein. Die Autorin hat zunächst den Offenen Brief der Feministin Alice Schwarzer, des Schriftstellers Martin Walser und anderer Prominenter unterzeichnet, in dem diese Scholz für seine »Besonnenheit« loben. Sie appellieren an den Kanzler, Putin kein »Motiv« für eine Ausweitung des Krieges zu liefern. Doch braucht jemand, der einen völkerrechtswidrigen Krieg anzettelt, überhaupt ein Motiv?

»Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können«

Die Unterzeichner des Briefes fordern Anstrengungen für einen raschen Waffenstillstand und einen »Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können«. Später bezeichnet Lange-Müller ihre Unterschrift als Fehler und fragt: »Soll der moralische Furor nur die Angst bemänteln, unsere so begründete wie vielleicht auch selbstsüchtige Angst?«

Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke sieht Parallelen zur sogenannten Kuba-Krise 1962. Damals stand die Welt kurz vor dem Atomkrieg. US-Präsident John F. Kennedy kündigte einen atomaren Gegenschlag an, sollte die Sowjetunion von Kuba nukleare Raketen starten. Am Ende verhindert ein in geheimen diplomatischen Verhandlungen erreichter Kompromiss, dass es so weit kommt.

Funke: Keine echte »Initiative zum Waffenstillstand«

Funke hält eine Waffenruhe, die Raum für ernsthafte Verhandlungen bieten könnte, für unabdingbar. Er schreibt: »Es gibt tatsächlich seit geraumer Zeit weltweit keine Initiative zum Waffenstillstand, die diesen Namen verdient«. Brandgefährlich findet er die Aussage von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, »Wir wollen Russland in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.«

Zu den prominentesten Stimmen im Lager der Mahner zu mehr Besonnenheit zählt der Philosoph Jürgen Habermas (92). Er schrieb Ende April in einem vielbeachteten Gastbeitrag: "Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet."

Schwere Waffen - ja oder nein?

Im in dieser Woche veröffentlichten RTL/ntv-Trendbarometer sprechen sich 46 Prozent der Bundesbürger für eine Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät durch Deutschland aus. Anfang April waren es noch 55 Prozent. Die vom Meinungsforschungsinstitut Forsa erhobenen Daten zeigen außerdem: Im Westen (48 Prozent) ist die Unterstützung für Waffenlieferungen größer als im Osten (39 Prozent). Männer (54 Prozent) plädieren eher für die Lieferung schwerer Waffen als Frauen (40 Prozent).

Auch das Alter spielt hier womöglich eine Rolle. 52 Prozent der Befragten im Alter zwischen 30 und 44 Jahren und 49 Prozent der Menschen aus der Altersklasse 45 bis 59 Jahre sind laut Umfrage für die Lieferung von schwerem Gerät zur Verteidigung der Ukraine. Von den jüngeren Deutschen (18-29 Jahre) und bei den Über-60-Jährigen sind lediglich jeweils 42 Prozent dafür.

Jung und Alt haben sich diese Woche dann zu einem Gegenentwurf zusammengefunden. Der in der »Zeit« veröffentlichte Offene Brief richtet sich zwar in seiner Anrede auch an den Bundeskanzler, faktisch ist er aber auch eine Replik auf den Blick der Mahner um Walser und Schwarzer.

»Zurückscheuen würde Kreml zu weiteren Aggressionen ermutigen«

Die Unterzeichner, zu denen unter anderem der Schriftsteller Maxim Biller und der Pianist Igor Levit gehören, argumentieren wider die Angst. Sie schreiben: »Würde der Westen von der Lieferung konventioneller Waffen an die Ukraine zurückscheuen und sich damit den russischen Drohungen beugen, würde das den Kreml zu weiteren Aggressionen ermutigen. Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden.«

Auch von anderer Seite hagelt es Kritik an der Argumentation von Schwarzer & Co., was manchem Anlass für ein Lamento über den Ton der Auseinandersetzung bietet. Der Kabarettist Dieter Nuhr, der zu den Unterzeichnern des »Emma«-Briefes gehört, beklagt sich auf seiner Facebook-Seite: »Leider wurde das im offenen Brief Geschriebene allzu häufig bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Es ist heute in der öffentlichen Auseinandersetzung üblich, dass der Andersmeinende durch Etikettierung und Diffamierung abgewertet wird und dass Empörung Abwägung ersetzt.«

© dpa-infocom, dpa:220506-99-179045/2