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Ärger um Bürgerversammlung im Olympiastadion

Das politische und wirtschaftliche System in Deutschland ist in Bewegung. Junge Gruppen wie Fridays For Future stellen vieles in Frage. Nun will eine Berliner Initiative eine neue Form der Partizipation ausprobieren - im Fußballstadion.

Blick in ein Fußballstadion.
Blick in ein Fußballstadion. Foto: Weller/dpa
Blick in ein Fußballstadion.
Foto: Weller/dpa

Berlin (dpa) - 60.000 Menschen treffen sich im Berliner Olympiastadion, diskutieren über mehr Klimaschutz, eine gerechtere Welt und andere drängende Probleme, stimmen über Lösungsvorschläge ab und bringen diese dann als gemeinsame Petition in den Bundestag ein.

Was klingt wie eine Utopie direkter Demokratie, soll am 12. Juni Wirklichkeit werden. »Wir wollen der gefühlten Ohnmacht entgegentreten und den dieser Tage scheinbar übermächtigen Krisen Lösungen entgegenstellen«, sagt eine Initiative, die ein »riesiges Fest der Demokratie« organisieren will. Doch das bisher wohl einmalige Vorhaben stößt nicht nur auf Unterstützung auch Prominenter wie Moderatorin Charlotte Roche, sondern ebenso auf viel Kritik.

Ins Rollen kam es im Herbst, als die Initiatoren im Internet eine Crowdfunding-Kampagne starteten - also Geld einsammelten, um das Olympiastadion für bis zu 60.000 Gäste zu mieten. Die nötigen 1,8 Millionen Euro kamen vergleichsweise schnell zusammen: zum einen über Spenden, zum weitaus größeren Teil über Eintrittskarten. Ein Versuch, die Summe auf 2,7 Millionen Euro aufzustocken, um 90.000 Besucher bei dem Stadionevent beherbergen zu können, scheiterte bis zum Ablauf der Frist in dieser Woche. 2,1 Millionen Euro stehen nun zur Verfügung.

Ein Kritikpunkt ist der Ticketpreis: Dass demokratische Partizipation 29,95 Euro kosten soll, wollen manche in der Netzgemeinde nicht einsehen. Gut 28 000 Käufer, auch Firmen, orderten Tickets, darunter Pakete von bis zu 1000 Karten. »Stadionmiete, Technik und die Sicherheit der Teilnehmer kosten Geld«, sagt Katharina Gail von der Initiative »12062020Olympia« dazu. Für Interessierte, die das Geld nicht haben, werde es von Firmen gespendete Soli-Tickets geben. »Wir wollen keine exklusive Veranstaltung sein«, versichert Gail.

Das 50-köpfige Orga-Team, maßgeblich getragen von Vertretern des Kondomherstellers Einhorn, und mögliche Referenten beim Event arbeiteten ehrenamtlich. Und: Selbst wer nicht im Stadion sei, könne sich in den kommenden Wochen und Monaten über eine Plattform an der Vorbereitung der geplanten Petitionen beteiligen und diese dann online mitzeichnen. Kommen mindestens 50.000 Unterstützer zusammen, wird das Thema im zuständigen Bundestagsausschuss diskutiert und kann im besten Fall in einen Parlamentsbeschluss münden.

Auf viel Kritik stießen auch manche Äußerungen der bei einem Vorhaben dieser Größenordnung unerfahrenen Initiatoren: So war zunächst von der »größten Bürger*innenversammlung der Welt« die Rede, inzwischen nicht mehr: »Uns geht es zwar darum, Menschen zu versammeln. Aber repräsentativ sind wir damit nur bedingt«, räumt die Initiative ein.

Der jüngste Shitstorm entzündete sich an einem Interview von Einhorn- Gründer und Mitinitiator Philip Siefer: Beim »Demokratiefest« seien auch Nazis willkommen, wenn sie gegen Rassismus seien, sagte er dem Journalisten Tilo Jung im Online-Interview-Format »Jung & Naiv«. Inzwischen ruderte er zurück: Ein Versuch, witzig zu sein, sei »verunglückt«. »Nazis und Demokratie - das passt niemals zusammen«, betonte er. »Ein solches Projekt auf die Beine zu stellen, ist für uns das erste Mal«, sagt Gail. »Wir sind bestimmt zu blauäugig in dieses Experiment gegangen.« Man nehme die Verantwortung aber ernst.

Trotz dieser Geburtswehen sieht Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von Mehr Demokratie e.V., das Projekt positiv. »Es ist eine junge Initiative, die deutlich macht, dass mehr Bürgerbeteiligung in breiten Kreisen gewünscht wird.« Hier seien durchaus neue Formate gefragt. »Da ist etwas Mut zu gesunder Experimentierfreude angesagt.« Allerdings dürften Unternehmen das nicht für wirtschaftliche Zwecke nutzen, so Nierth, deren Verband die Initiatoren berät.

Auch der Berliner Ableger der Klimaschutzbewegung Fridays For Future (FFF) stellt sich hinter »12062020olympia« und will die Macher bei der inhaltlichen Gestaltung, die nun ansteht, unterstützen. »Wir finden die Idee gut, unterschiedliche Möglichkeiten zu nutzen, um an die Politik heranzukommen«, sagt FFF-Sprecher Immanuel Nikelski.

Demokratieforscher Wolfgang Merkel hingegen sieht die Veranstaltung mit Skepsis. »Es handelt sich um eine orchestrierte Manifestation, die nicht von unten gewachsen und deshalb nicht besonders demokratiefördernd ist«, meint der Professor vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin. Kostenpflichtige Tickets seien noch das geringste Problem. Schwerer wiege, dass eine Bürgerversammlung mit Meinungsaustausch, kontroversen Diskussionen und einer Verständigung auf konkrete Beschlüsse in einem Stadion nicht möglich sei.

»Solche Events wachsen aus dem Boden einer gewissen Unzufriedenheit mit den klassischen Institutionen einer repräsentativen Demokratie, allen voran den Parteien, aber auch den Parlamenten«, konstatiert Merkel. Vor diesem Hintergrund seien eine stärkere gesellschaftliche Mobilisierung sowie Modelle für mehr Partizipation in Ergänzung zu den Parlamenten durchaus positiv zu sehen. Aber: »Ein Spektakel in einem Fußballstadion, das eine phänotypische Ähnlichkeit mit plebiszitären Massenveranstaltungen autoritärer Systeme aufweist, ist hier aus meiner Sicht ungeeignet.«