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Vierte Corona-Welle: Wie viel Kraft haben die Kliniken noch?

Fast 90 Prozent der Intensivbetten sind bereits belegt - und die Corona-Inzidenz steigt weiter. Wie lange können die Kliniken noch durchhalten?

Operation in der Klinik
Ein Mediziner operiert in einer Klinik in Baden-Württemberg. Foto: Felix Kästle/dpa
Ein Mediziner operiert in einer Klinik in Baden-Württemberg. Foto: Felix Kästle/dpa

BERLIN. Deutschland trifft die vierte Corona-Welle mit Wucht. Die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen explodiert förmlich, immer mehr Menschen müssen intensivmedizinisch behandelt werden. 

Die Sorge geht um, dass Kliniken bald an ihre Grenzen stoßen - oder bereits am Limit sind. Wie lange geht das noch gut?

»Wir fahren im Nebel ohne GPS«, warnt Christian Karagiannidis, Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Er hat mit dem Mathematiker Andreas Schuppert von der RWTH Aachen berechnet, wie dramatisch eine Auslastung der Intensivstationen in den kommenden Wochen aussehen könnte: Bei Corona-Inzidenzen von 250 bis 400 steigt die bundesweite Belegung auf mindestens 3500 bis maximal 6000 Covid-Patienten. Das wäre ein neuer Höchstwert.

»Es wird ein sehr stürmischer Herbst«, sagt Uwe Janssens, Präsidiumsmitglied der Divi, voraus. 0,8 Prozent der Infizierten benötigten eine intensivmedizinische Behandlung, so Janssens. Man müsse sich für die Entwicklung nur die steigenden Infektionszahlen vor Augen halten. Von 1000 Corona-Infizierten landen demnach acht auf der Intensivstation.

Immer neue Höchststände

Mit über 50.000 übermittelten Corona-Fällen innerhalb von 24 Stunden meldete das Robert Koch-Institut (RKI) erst am Donnerstag einen Höchststand bei den neuen Corona-Infektionen (Freitag: 48.640). Von diesen Fällen landen rein rechnerisch rund 400 auf der Intensivstation. Gerald Gaß, Vorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), rechnet deswegen bereits Ende der kommenden Woche mit insgesamt 4000 Corona-Patienten auf den Intensivstationen.

Wie sieht es dort gerade aus? Über 2800 Corona-Patienten wurden zuletzt intensivmedizinisch behandelt. »Noch sind die Intensivbelegungen deutschlandweit niedriger als im Dezember 2020«, vergleicht Mathematiker Schuppert. Damals waren es zwischenzeitlich mehr als 5500 Patienten. Im Laufe der Woche lag die Zahl der täglichen Neuaufnahmen aber deutlich über 200.

»Es ist fünf nach zwölf«, sagte auch RKI-Präsident Lothar Wieler am Freitag in Berlin. In etlichen Landkreisen gebe es so viele Neuinfektionen, dass die Kliniken und besonders die Intensivstationen an der Kapazitätsgrenze seien. Dies werde ohne zusätzliche Maßnahmen überall in Deutschland eintreten.

Ein durchschnittlicher Covid-Intensivpatient ist laut DKG »derzeit ungeimpft, männlich und mittleren Alters«. Weil das Durchschnittsalter der Covid-Intensivpatienten zwischenzeitlich auf unter 50 Jahre gesunken ist, müssen Mediziner länger als zuvor um das Leben der Erkrankten kämpfen. Jüngere Menschen liegen im Schnitt länger auf der Intensivstation, weil sie bessere Überlebenschancen haben.

Patienten immer jünger - und länger in der Klinik

»Ein jüngerer Patient, der beatmet werden muss, liegt viel länger auf der Intensivstation«, erklärt Janssens. Die hohe Liegedauer bedeute eine zusätzliche Belastung. Beim bisherigen Höchstwert im Januar 2021 mit mehr als 5700 belegten Intensivbetten waren die Patienten laut DKG im Schnitt fast 80 Jahre alt.

Ein Problem ist auch die nachlassende Wirkung der Impfung. Die DKG sagt: »Impfdurchbrüche zeigen sich fast ausschließlich nur bei Älteren.« Das ist ein Grund, warum der Altersdurchschnitt auf den Intensivstationen nun wieder ansteigt. Aktuell seien 36 Prozent der über 60-jährigen Covid-Fälle auf Intensivstationen »wahrscheinliche Impfdurchbrüche«, teilt das RKI mit.

Intensivmediziner Janssens prophezeit deshalb: »Wir werden auch eine Pandemie der Durchbruchsinfektionen haben.« Im September 2021 waren laut DKG mehr als 90 Prozent der Covid-Intensivpatienten ungeimpft, Anfang November dagegen nur noch 74 Prozent.

Zusätzlich sind innerhalb eines Jahres laut Intensivregister etwa 5000 Betten - davon rund 3000 Beatmungsbetten - verloren gegangen. Janssens erklärt: »Diese Betten sind noch da, können aber wegen fehlendem Personal nicht genutzt werden.« Das heißt: Der Mangel an Pflegekräften kommt in diesem Corona-Herbst noch erschwerend hinzu.

Stichwort 2G

Wie kann diese Entwicklung gestoppt werden, damit nicht ein neuer Höchststand bei der Bettenbelegung erreicht wird? Karagiannidis spricht von einer »freiwilligen Verhaltensänderung der Bevölkerung« und nennt die Stichwörter 2G, also Zutritt zu etwa Veranstaltungen nur für Geimpfte und Genesene, und Booster, also das Auffrischen des Impfstatus vor allem bei vulnerablen Gruppen. Schuppert verweist zudem darauf, dass die Quote vollständig Geimpfter um zehn Prozentpunkte zu niedrig sei - sie liegt aktuell bei 67,4 Prozent (Stand 12.11.). Das würde Deutschland ein gutes Stück näher an die sogenannte Herdenimmunität bringen.

Bei der Situation auf den Intensivstationen gibt es Unterschiede in den Ländern: In Bayern ist die Krankenhaus-Ampel des bayerischen Gesundheitsministeriums auf Rot gesprungen, die Grenze von 600 Corona-Patienten auf den Intensivstationen ist überschritten. Neben Bayern verzeichnen die Nachbarländer Thüringen und Sachsen bundesweit die höchsten Anteile an Covid-Patienten an der Gesamtzahl der Intensivbetten. Dort ist - in Bezug auf Erwachsene - mehr als jedes fünfte betreibbare Bett mit Covid-19-Patienten belegt, wie aus den Divi-Daten hervorgeht.

Wenn der Druck zunimmt, müssen die Kliniken reagieren. »In einzelnen Regionen finden bereits Verlegungen in weiter entfernte Krankenhäuser statt«, sagt DKG-Vorsitzender Gaß. In Berlin werden planbare Eingriffe abgesagt. Derzeit kennt die Zahl der belegten Intensivbetten in Deutschland nur eine Richtung: nach oben.

Die Inzidenz steigt, die Intensivstationen füllen sich. »Die Gesamtauslastung liegt schon jetzt bei fast 90 Prozent«, warnt Gaß und ergänzt: »Das ist ein sehr hoher Wert, der normalerweise erst auf dem Höhepunkt der Grippe- und Unfallsaison im Winter erreicht wird.« (dpa)