Beim angeschlagenen Energieversorger Uniper wird die Lage immer bedrohlicher. Der Konzern schöpfte am Montag eine milliardenschwere Kreditlinie der staatlichen Förderbank KfW ganz aus und beantragte weitere Mittel.
Verhandlungen mit der Bundesregierung über ein Rettungspaket dauern an. Uniper ist wegen einer Drosselung russischer Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 unter Druck geraten.
Zurzeit wird die Pipeline bis voraussichtlich Donnerstag gewartet. Die Sorge ist, dass Russland den Gashahn dann nicht wieder aufdreht - das könnte auch an einer Turbine liegen. Die Folge könnte ein Gasmangel sein. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verlangte, für diesen Fall die Gasversorgung neu zu regeln.
Im Moment ist die Versorgung stabil, wie die Bundesnetzagentur in ihrem Lagebericht schrieb. Derzeit werde eingespeichert. Der Speicherstand liegt bei 64,6 Prozent. Zum Beginn der Heizperiode sollen die Speicher aber möglichst voll sein. Uniper hatte mitgeteilt, man habe Anfang vergangener Woche begonnen, Gas aus seinen selbstgenutzten Speichern zu entnehmen. Dies geschehe zur Schonung der Geldmittel und um Verträge zu erfüllen.
Uniper sieht sich zu »Notmaßnahmen« gezwungen
Der Konzern nahm eine KfW-Kreditlinie von zwei Milliarden Euro nun vollständig in Anspruch. Außerdem sei ein Antrag gestellt worden, um die Kreditlinie zu erhöhen, teilte Uniper mit. Das Unternehmen muss teureres Gas auf dem Markt einkaufen, um Verträge zu erfüllen, was zu Liquiditätsproblemen führt.
»Um unsere Liquidität zu sichern und unsere Lieferverträge mit unseren Kunden zu erfüllen, sind wir zu Schritten gezwungen, die eindeutig als Notmaßnahmen bezeichnet werden müssen«, sagte Konzernchef Klaus-Dieter Maubach. Ursprünglich hatte Uniper die KfW-Kreditlinie Anfang Januar angesichts des sich anbahnenden Ukraine-Kriegs vereinbart und sie Ende März vorsichtshalber bis Ende April 2023 verlängert.
Der russische Energiekonzern Gazprom begründete ausgebliebene Lieferungen an seinen Kunden Uniper mit höherer Gewalt. Uniper habe ein Schreiben von Gazprom Export erhalten, sagte ein Sprecher des Versorgers. Gazprom Export ist eine Tochter des russischen Staatskonzerns. In dem Schreiben habe Gazprom Export rückwirkend »Force Majeure« für die bisherigen und aktuellen Fehlmengen geltend gemacht. Uniper hält dies für nicht gerechtfertigt und hat diesen Anspruch zurückgewiesen. Auch der Energieversorger RWE bestätigte den Erhalt eines Schreibens zu höherer Gewalt von Gazprom.
Unter »Force Majeure« (höhere Gewalt) wird ein von Außen kommendes, unvorhersehbares Ereignis verstanden, welches außerhalb der Kontrolle der Vertragsparteien liegt. Darunter können beispielsweise Krieg, Naturkatastrophen oder Pandemien fallen, die dazu führen, dass eine Leistung nur unzureichend oder gar nicht erfüllt werden kann.
Keine Auskunft zur Turbine
Schon vor der jetzigen Wartung von Nord Stream 1 hatte Gazprom die Lieferungen auf 40 Prozent gedrosselt und dies mit einer fehlenden Turbine begründet. Von der Turbine hängt laut Gazprom die verlässliche Arbeit von Nord Stream 1 und die Versorgung der europäischen Verbraucher ab.
Eine Sprecherin von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte, weil Sicherheitsfragen berührt seien, könne sie keine Auskunft geben, wann sich die Turbine wo befinde. Sie verwies auf Aussagen von Siemens Energy, dass alles dafür getan werde, dass Transport und Einsatz der Turbine schnellstmöglich erfolgten.
Nach allem, was das Ministerium wisse und was auch Experten gesagt hätten, sei die Turbine als Vorwand genutzt worden, sagte die Sprecherin Habecks. Die Turbine sei eine Ersatzturbine gewesen, die für den Einsatz im September bestimmt gewesen sei. »Dennoch tun wir alles, um diesen Vorwand zu nehmen.«
Industrie erwartet langfristigen Gasmangel
Für den Fall, dass Russland den Hahn nicht wieder aufdreht, wird ein Gasmangel mit schweren Folgen für die deutsche Wirtschaft befürchtet. BDI-Präsident Siegfried Russwurm sagte, die jetzigen Priorisierungsregeln in einer Mangellage seien für eine kurzfristige Unterbrechung einzelner Leitungen geschaffen worden: »Für die harte neue Energie-Realität muss die Politik in Berlin und Brüssel eine neue Regelung schaffen. Diese hat alle Teile der Gesellschaft entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit in die Pflicht zu nehmen.«
Russwurm erwartet, dass auf Deutschland ein langfristiger Gasmangel zukommt. Jetzt zähle jede eingesparte Kilowattstunde Gas und Strom. »Neben Unternehmen, Kommunen und Ländern müssen Privatverbraucherinnen und -verbraucher Teil der massiven Energiesparkampagne werden.«
Unter Priorisierung versteht man die Reihenfolge, in der private Haushalte und Unternehmen bei einem akuten Mangel Gas bekommen. Gemäß einer EU-Verordnung und dem deutschen Notfallplan sollen bestimmte Verbrauchergruppen möglichst bis zuletzt versorgt werden. Zu diesen gehören Privathaushalte, soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser sowie Gaskraftwerke, die zugleich Haushalte mit Wärme versorgen.
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