Im Wirecard-Prozess um den mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945 wird der Kronzeuge von den Verteidigern seiner Mitangeklagten als »Lügner« bezechnet. Die Verteidiger von Ex-Vorstandschef Markus Braun und des früheren Wirecard-Chefbuchhalters forderten am Donnerstag vor dem Münchner Landgericht ein »Verwertungsverbot« für die Aussagen des bis zum Kollaps des Dax-Konzerns 2020 in Dubai tätigen Managers Oliver Bellenhaus. Das Argument der Anwälte: Ebenso wie der 49-Jährige einst Vorgesetzte, Kollegen und Geschäftspartner belog und betrog, täusche er nun die Justiz.
»Ein professioneller Lügner«, attackierte Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm den einstigen Untergebenen seines Mandanten. »Lügen ein Leben lang, auch nach Wirecard.« Ein Verwertungsverbot würde bedeuten, dass sämtliche Aussagen des Kronzeugen - inklusive der Anschuldigungen gegen seine Mitangeklagten - im Urteil nicht berücksichtigt werden.
Sowohl Brauns Anwälte als auch die Verteidigerin des ehemaligen Chefbuchhalters warfen Bellenhaus vor, in großem Umfang Daten gelöscht oder anderweitig vernichtet zu haben - E-Mails, Chats auf Telegram und Signal, sowie Wirecard-Geschäfts- und Firmendaten. »Man muss immer seine Spuren vernichten«, zitierte Sabine Stetter, die Verteidigerin des früheren Chefbuchhalters, aus einer erhalten gebliebenen Mail des Kronzeugen. »Der Angeklagte Bellenhaus hat sogar seine eigene Ehefrau über seine Identität getäuscht.«
Mobiltelefon ist bis heute verschwunden
Aktenkundig ist, dass Bellenhaus im Sommer 2020 unmittelbar vor seiner Inhaftierung auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft sein Handy verlor, das Mobiltelefon ist bis heute verschwunden. Bellenhaus habe den Ermittlern lediglich »einen präparierten Datenbestand« überlassen, sagte Stetter. Es sei ihm gelungen, »die Sichtweise der Staatsanwaltschaft zu manipulieren«.
Der 49 Jahre alte Bellenhaus ist der einzige der drei Angeklagten, der die Vorwürfe der Münchner Staatsanwaltschaft einräumt. Der Kronzeuge hat im bisherigen Prozessverlauf sowohl Fälschungen und Manipulationen gestanden als auch Braun und den ehemaligen Chefbuchhalter schwer beschuldigt.
»Eine absurde Lügengeschichte«, sagte Brauns Anwalt Dierlamm dazu. »Die Geschichte von Herrn Braun als Bandenanführer ist eine Gefälligkeitsaussage ohne jeden Realitätsbezug.« Der Anwalt warf dem Kronzeugen einen »schmutzigen Handel« mit der Münchner Staatsanwaltschaft vor. »Ich habe aufgehört, in diesem Verfahren an Versehen und Zufälle zu glauben.«
Laut Anklage agierten Braun und Komplizen als Betrügerbande, die mit Hilfe erfundener Umsätze und Gewinne Banken und Kreditgeber um über drei Milliarden Euro prellten. Braun selbst wird voraussichtlich am kommenden Montag erstmals persönlich zur Anklage Stellung nehmen. Der österreichische Manager kündigte an, zwei bis drei Stunden sprechen zu wollen: »Ich will das Wirecard-Geschäftsmodell erklären.«
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