Havanna (dpa) - Jeden Abend, wenn die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet, vollzieht sich auf Havannas berühmter Uferpromenade ein absurdes Schauspiel. Mit voller Lunge bläst Ernesto Rodríguez auf der Malecón drei bis vier Kondome auf und bindet sie an einer Angelschnur zusammen.
Dann wirft er das irrwitzige Konstrukt auf das Meer, in der Hoffnung, dass ein Fisch anbeißt. Das Ritual, das der Fischer Rodríguez hier Tag für Tag vollzieht, steht sinnbildlich für das gegenwärtige Kuba, wo wirtschaftlicher Mangel und kreativer Geschäftssinn oft Hand in Hand gehen. Viele Einwohner des sozialistischen Inselstaats haben gelernt, sich von dem notorischen Mangel an Produkten und Materialien nicht einschränken zu lassen und mit viel Einfallsreichtum ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Für die Fischer an der Promenade haben die aufgeblasenen Kondome viele Vorteile. Seitdem die kubanischen Behörden in den 90er Jahren das Angeln auf Flößen vor der Malecón verboten haben, gab es für die Fischer keine Möglichkeit mehr, an den großen Fang heranzukommen. »Die großen Fische tummeln sich nicht direkt an der Mauer, deswegen müssen wir sie suchen gehen«, erklärt Rodríguez.
Was mit den herkömmlichen Angeln nicht möglich war, ist dank den Kondomen einfacher geworden. Sie tragen die Angelhaken auf eine Distanz von bis zu 300 Meter hinaus auf das Meer, dorthin wo die Fische 10 bis 15 Kilo auf die Waage bringen.
Für Rodríguez ist das ein entscheidender Faktor. Fischen ist für ihn nicht nur Hobby, sondern er verdient sich damit auch teilweise seinen Lebensunterhalt. Denn obwohl es eigentlich nicht legal ist, die Fische weiterzuverkaufen, bekommt er von den Restaurants an der Promenade, für einen Snapper einen Dollar pro Kilo.
Und noch einen Vorteil haben die Kondome: Sie vermeiden, dass der Angelhaken im Meer versinkt. Wenn ein Fisch anbeißt, bleibt er an der Wasseroberfläche, und das Risiko, den Fisch samt Haken durch einen Ruck zu verlieren, wird so kleiner.
Es ist noch gar nicht lange her, da waren Kondome selbst absolute Mangelware auf Kuba. 2014 gipfelte der Kondommangel in einer Krise und schaffte es sogar in die Zeitung »Granma«, dem offiziellen Blatt der Kommunistischen Partei Kubas. Seitdem hat sich das jährliche eingeführte Kondomkontingent von 70 Millionen auf 120 Millionen erhöht. Die Kondome werden aus China und Indien importiert und vom Staat subventioniert. Eine Schachtel kostet 5 kubanische Pesos, was etwa 5 Cent entspricht.
Auch auf die Herstellung von Wein nehmen die Präservative mittlerweile einen entscheidenden Einfluss. Orestes Estévez arbeitete 30 Jahre im Innenministerium, bevor er die wirtschaftliche Öffnung unter dem damaligen Präsidenten Raúl Castro nutzte, um eine Lizenz für die Herstellung von Wein zu erhalten. Er benutzt die Kondome im Fermentierungsprozess.
Dabei wird das Kondom auf den Hals der Flasche gestülpt, in der die Früchte quellen. Estévez fügte dem Wein auch Gingseng oder Brunnenkresse bei. »Während der Gärung beginnt das Kondom aufzusteigen, etwa so wie beim Mann«, erklärt Estévez. In das Präservativ werden dabei kleine Löcher gestochen, damit es während des bis zu 45 Tage andauernden Fermentationsprozess nicht platzt.
Die Weine verkauft Estévez in seinem Geschäft »La Casa del Vino« für einen Preis zwischen 50 Cent und einem Dollar. In der Nachbarschaft hat er sich, nach eigener Aussage, mit den Weinen bereits beliebt gemacht. Die Bewohner des Viertels tränken jetzt endlich guten Wein und keinen billigen Alkohol mehr. Das wirke sich auch sonst positiv auf das Zusammenleben aus: »Sie essen gut, sie schlafen gut und sie sprechen miteinander«, sagt Estévez. Die Kondome sorgen in Kuba offenbar für mehr Gemeinschaftlichkeit - nicht nur im Bett.