BERLIN. Beim Berliner Hauptbahnhof, da sind sich die Einheimischen sicher, haben die Planer die Radfahrer schlicht vergessen. Wer dort mit dem Fahrrad zum Zug fährt, muss sich den Stellplatz für sein Gefährt meist nach eigenem Gutdünken an Masten und Pollern suchen – die wenigen Abstellbügel sind stets proppenvoll. Am Bahnhof von Oranienburg hingegen steht ein nagelneues Fahrradparkhaus samt Schließfächern, in denen man sogar den Akku des E-Bikes laden kann. Die Lage in den anderen Kommunen Deutschlands liegt irgendwo zwischen diesen Polen – doch meist auf der unbefriedigenden Hälfte, so Experten unisono.
Nachhaltige Mobilitätsketten
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) etwa sprach vor einem Jahr nach einem bundesweiten Test von Bike+Ride-Anlagen von einer »Horrorstory«. Seither gab es zwar einige Bewegung bei dem Thema, »doch unter dem Strich ist es eher desaströs, was die Abstellsituation an den Bahnhöfen angeht«, sagt der ADFC-Sprecher René Filippek. In München etwa stehen die Räder dicht gedrängt und ineinander verhakt in Ständern, in denen nur das Vorderrad Platz findet. Den Rahmen anschließen? Fehlanzeige. »Gerade viele große Bahnhöfe haben eigentlich gar keine reelle Abstellmöglichkeit. Das geht aber hin bis zum Dorfbahnhof, wo drei Abstellbügel stehen, die dann mit drei Schrotträdern belegt sind.«
DIE SITUATION IN REUTLINGEN
»Völlige Überfüllung in der gesamten Stadt«
Eine »völlige Überfüllung der Fahrradabstellplätze in der gesamten Stadt« beklagt Christian Wittel, der Vorsitzende der Reutlinger Einzelhandelsinitiative »RT aktiv«. Gerade die Stellplätze am Reutlinger Bahnhof seien oft voll, hat er beobachtet. Pendler, die mit dem Rad zum Bahnhof fahren, suchten sich deshalb oft außerhalb Abstellplätze. Für den Einzelhandel sei das problematisch, weil viele ihre Räder dann »wild vor Schaufenstern« parkten.
Außerdem seien überfüllte Fahrradständer nicht eben ein Zeichen großer »Willkommenskultur für Gäste und Kunden«, so Wittel. »Wenn wir wirklich Fahrradstadt werden wollen, dann müssten wir da ein Zeichen setzen, statt schon jetzt bei der Infrastruktur hinterherzuhinken«, fordert der Einzelhändler mit Blick auf das Ziel verstärkten Radverkehrs. »Wir sind im Gespräch über Verbesserungen mit der Stadt.« Das geplante Radparkhaus in Bahnhofsnähe sieht Wittel ebenfalls kritisch, weil es »jenseits der Gleise« gebaut werden soll.
Der Höhenunterschied zur Innenstadt einerseits und die zwei »unattraktiven Unterführungen« andererseits wirkten als Barrieren und hielten viele Menschen davon ab, das Angebot zu nutzen, fürchtet der »RT aktiv«-Vorsitzende. Die Reutlinger Stadtverwaltung sah sich gestern Nachmittag auf Nachfrage nicht zu einer Stellungnahme in der Lage. (eks)
Dabei seien der öffentliche Personennahverkehr und das Fahrrad eigentlich natürliche Verbündete. »Aber da möchte ich dann auch wissen, dass mein Rad am Bahnhof sicher steht. Gerade Hochwertiges lässt man ungern an irgendwelchen Bauzäunen über längere Zeit stehen«, betont Filippek.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sieht deutschlandweit einen erheblichen Mangel. »Gerade im Umland der größeren Städte, wo viele Pendlerinnen und Pendler das Fahrrad zur Bahn benutzen, ist die Nachfrage enorm«, erläutert ein Sprecher. Der Ausbau der Stellplätze sei bei der Bahnreform nicht berücksichtigt worden. »Für die notwendige Verkehrswende brauchen wir jedoch nachhaltige Mobilitätsketten.«
Perspektivisch schätzt der Städte- und Gemeindebund den Bedarf auf mehr als eine Million zusätzlicher Stellplätze. Da ist die Initiative bike+ride nur ein Tropfen auf den heißen Stein – der aber immerhin eine kleine Abkühlung bringen soll. Bis zu 100 000 neue Fahrradstellplätze sollen dadurch bis Ende 2022 entstehen; dann wären es deutschlandweit eine halbe Million. Das Bundesumweltministerium übernimmt dabei 40 Prozent der Kosten. Grundsätzlich sollen alle förderfähigen Anträge bewilligt werden.
Im ersten »Antragsfenster« Anfang des Jahres wurden zehn Anträge aus Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Hessen für 2 700 neue Radabstellplätze eingereicht, so das Ministerium. Ein Problem: Die Kooperation zwischen den Kommunen und der Bahn ist kompliziert. Selbst der Verkehrsminister eines großen Bundeslandes klagte, er bekomme bei der Bahn keinen entscheidungsfähigen Gesprächspartner ans Telefon. Das soll besser werden: Die Deutsche Bahn soll helfen, Standorte zu finden sowie die Abstellanlagen zu planen und zu montieren. Wenn sich die identifizierten Flächen nicht im Eigentum der Kommunen, sondern der Bahn befinden, soll die unentgeltliche Nutzung über Muster-Gestattungsverträge geregelt werden.
Was dann auf den Flächen passiert, hängt vor allem von der Finanzlage und den Prioritäten der jeweiligen Kommune ab. Als Vorbild werden oft die Niederlande genannt, wo es eine gute Bedarfsermittlung und ein einfaches Prozedere von der Planung über die Finanzierung bis hin zum Betrieb von Fahrradabstellanlagen gibt. Resultat: Große über- und unterirdische Parkhäuser für bis zu 12 000 Fahrräder, in denen freie Plätze mit einem Wegeleitsystem angezeigt oder die Räder gar automatisiert geparkt werden. Hinzu kommen Toiletten, Servicestationen mit Reparaturwerkstätten, Schließfächer – und sehr oft ein direkter Zugang zu den Bahnsteigen, was die Zeit zum Umsteigen minimiert. »So was ist für Fahrradfahrer natürlich ein Traum!«, urteilt die Fahrradexpertin des Verkehrsbündnisses Allianz pro Schiene, Nicol Mierz. (dpa)