Seit fast einem Jahrzehnt hatte es in den USA keine Fälle von Kinderlähmung mehr gegeben, im Bundesstaat New York sogar schon seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Die ansteckende Infektionskrankheit galt in den USA als ausgerottet. Im Sommer aber infizierte sich ein junger Mann nördlich der Millionenmetropole New York mit dem Virus, nun sind seine Beine teilweise gelähmt. Im Abwasser mehrerer Gemeinden des Bundesstaates und auch der Millionenmetropole wurden seitdem immer wieder Polioviren nachgewiesen.
»Wenn man einen Polio-Erkrankten mit Lähmungen hat, weiß man direkt, dass es ein größeres Problem gibt«, hatte Polio-Expertin Sabine Diedrich vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin kürzlich erklärt. Denn nur in etwa einem von 200 Fällen führe eine Infektion zu den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen - und das zudem nur bei Ungeimpften. Ein solcher Fall kann daher hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten.
Risiko für Ungeimpfte hoch
Gouverneurin Kathy Hochul rief den Katastrophenfall aus. Das Risiko sei für nicht gegen Kinderlähmung geimpfte Menschen hoch, sagte die Gouverneurin und rief alle Einwohner auf, Immunisierungen wenn nötig nachzuholen.
»Wenn Ihr Kind nicht geimpft ist oder der Impfstatus nicht auf dem aktuellsten Stand ist, dann ist das Risiko einer lähmenden Erkrankung real«, appellierte New Yorks Gesundheitsbeauftragte Mary Bassett an alle Eltern. Rund 14 Prozent der Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren sind den Behörden zufolge in der Metropole nicht oder nicht vollständig gegen Polio geimpft. Routine-Impfungen wie die gegen Polio wurden in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen.
Die Erkrankung, die oft über kontaminierte Hände als sogenannte Schmierinfektion oder über verunreinigtes Wasser verbreitet wird, kann Lähmungen auslösen und zum Tod führen, vor allem Kleinkinder können dauerhafte Lähmungen davontragen.
Vor Einführung von Schutzimpfungen gab es allein in Deutschland tausende Erkrankte und hunderte Todesfälle jährlich. Durch die 1988 initiierten weltweiten Impfkampagnen konnten bis heute rund 20 Millionen Menschen vor einer Lähmung und anderthalb Millionen vor dem Tod bewahrt werden, wie es bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heißt. Inzwischen allerdings liegen die Impfquoten vielerorts viel zu niedrig.
Nicht nur USA betroffen
Betroffen sind nicht nur die USA. In Israel war der Erreger Anfang März zunächst bei einem erkrankten vierjährigen Kind in Jerusalem nachgewiesen worden. Anschließend wurden weitere Fälle und im Abwasser mehrerer Städte des Landes Polioviren gefunden. In London wurden die Gesundheitsbehörden im Juni aufmerksam, als wiederholt Polioviren in Abwasserproben gefunden wurden. Allein dort sind nach Regierungsangaben zehntausende Kinder gefährdet.
Bei den in den drei Ländern nachgewiesenen Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Polio-Virus, sondern um Viren, die auf die Schluckimpfung mit abgeschwächten, aber lebenden Polioerregern zurückgehen. Sie können von Geimpften bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden werden, anfangs ist auch eine Ansteckung über Speichel und Rachensekrete möglich. Auch andere Länder könnten Experten zufolge betroffen sein.
Israel nutzt als Schluckimpfung verabreichte Lebendimpfstoffe (OPV) - die USA und Großbritannien allerdings nicht. Dort sind seit längerem - wie auch in Deutschland seit 1998 ausschließlich - inaktivierte Impfstoffe (IPV) im Einsatz, die keine lebensfähigen Viren enthalten. Die in London und New York kursierenden Erreger wurden wahrscheinlich zunächst von Menschen eingeschleppt, die in ihrem Land die noch weit verbreitete Schluckimpfung erhalten hatten.
Keine Heilung für Polio
Die WHO hat die USA nun auf die Liste der - derzeit rund 30 - Länder gesetzt, in denen sich auf Impfungen zurückgehende Polioviren verbreiten. »Die USA nehmen alle entsprechenden Handlungen vor, um neue Fälle von Lähmungen zu verhindern«, hieß es von der Gesundheitsbehörde CDC. Eine Heilung für Polio gibt es bisher nicht.
Vor allem in Afrika und Asien wird noch verbreitet auf die Schluckimpfung mit Lebendimpfstoffen gesetzt. Das sehr geringe Risiko eines Impfpolio-Falls wird in Kauf genommen zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung.
Auch in den USA wird nach dem Polio-Ausbruch von New York nun über eine Wiedereinführung der Schluckimpfung nachgedacht. Inzwischen gibt es einen neuen Lebendimpfstoff mit einem Virus, das sich weniger gut vermehren und nicht so lange ausgeschieden werden kann. »Seit dem Ausbruch in New York haben wir entschieden, dass wir uns Polio neu anschauen müssen«, sagte Oliver Brooks, der Vorsitzende einer CDC-Arbeitsgruppe zu dem Thema, dem TV-Sender CNBC. »Das müssen wir einfach machen.«
In Deutschland werden Babys ab zwei Monaten geimpft, die Impfquote liegt RKI-Expertin Diedrich zufolge im bundesweiten Mittel bei rund 90 Prozent. »Das reicht nicht«, hatte sie betont. Besonders niedrig sei die Quote etwa in Bayern und Baden-Württemberg. Ein Problem hierzulande sei, dass aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, was für furchtbare Folgen Polio für unzählige Kinder hatte - und wieder haben könnte. »Das darf auf keinen Fall auf die leichte Schulter genommen werden.«
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