Fast ihr gesamtes bisheriges Leben hat eine Achtjährige wohl in einem Haus im sauerländischen Attendorn verbringen müssen. Seit einigen Wochen ist ihr Leben auf den Kopf gestellt: Ihre bisher womöglich einzigen sozialen Kontakte dürfen sie nach ihrer Rettung vorerst nicht mehr sehen - schließlich waren es die Angehörigen, die für ihre Isolation verantwortlich sein sollen.
Die Mutter und die Großeltern dürfen derzeit keinen Kontakt zu dem bei einer Pflegefamilie untergebrachten Kind haben, sagte der Fachbereichsleiter des Jugendamts im Kreis Olpe, Michael Färber. Es gebe aber Überlegungen, wie man in der Sache weiter verfahre. Im Mittelpunkt stehe die Frage: »Was will das Kind?«
Keine Polizei-Absperrbänder, kein Presserummel - am Dienstag erinnert vor dem unscheinbaren Haus nahe des Zentrums der 25.000-Einwohner-Stadt nichts daran, dass sich dort über Jahre hinweg Furchtbares abgespielt haben soll. Beinahe sieben Jahre soll das Mädchen dort von seiner Mutter und seinen Großeltern festgehalten worden sein.
Davon geht zumindest die Staatsanwaltschaft Siegen aus, die gegen die drei wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und der Misshandlung von Schutzbefohlenen ermittelt. Im September wurde die Achtjährige befreit. Der Fall wurde Anfang November durch einen Bericht des »Sauerlandkuriers« öffentlich.
Beeindruckt von der Außenwelt
Die Ermittler schließen aus dem Verhalten des Mädchens nach seiner Rettung, dass es zuvor das Haus jahrelang nicht verlassen durfte, wie Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss erklärte. Es sei offenbar sehr beeindruckt von der Außenwelt gewesen, etwa vom Garten, einem Baum, einer Wiese. »Das deutet für uns darauf hin, dass das Kind diese Eindrücke erstmalig erlebt hat«, sagte er.
Die Achtjährige habe aber einen aufgeweckten Eindruck gemacht. Sie könne sprechen und scheine auch Kenntnisse im Lesen und Schreiben zu haben. »Wir gehen davon aus, dass sie sich im Haus weitgehend frei bewegen durfte«, sagte von Grotthuss. Hinweise auf körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch haben die Ermittler nicht.
Bei der Rettung fielen aber Probleme beim Treppensteigen und im Bewegungsapparat auf. Woran das liegt, müsse noch geklärt werden, sagte von Grotthuss. Die 46-jährige Mutter, die 76-jährige Großmutter und der 80-jährige Großvater haben sich noch nicht zu den Vorwürfen geäußert. Das Kind werde befragt, wenn es sein Zustand erlaube, sagte von Grotthuss. »Wir müssen uns behutsam rantasten und schauen, was wir dem Kind wann zumuten können.«
»Zum gesunden Aufwachsen brauchen Kinder den Kontakt zu anderen Kindern, das ist unbestritten«, sagte Kinder- und Jugendarzt Axel Gerschlauer der Deutschen Presse-Agentur. Eine seriöse Aussage über den körperlichen und psychischen Zustand der Achtjährigen sei aus der Ferne ohne Untersuchung nicht möglich. Es müsse aber ein genaues Augenmerk auf Sprachentwicklung, Sozialverhalten und die motorische Entwicklung gelegt werden.
»Wie ist sie ernährt worden, wenn sie wirklich nur im Haus war und kein Sonnenlicht abbekommen hat«, sagte Gerschlauer, Landespressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in NRW. »Wie sind die Knochen entwickelt, weil man braucht Sonnenlicht für eine gesunde Knochenentwicklung.« Sonst könne es zu schwachen Knochen oder gar einer Knochenfehlbildung kommen, die nicht ohne Weiteres rückgängig gemacht werden könne.
»Ist das niemandem aufgefallen?«
In der Stadt habe nach dem Bekanntwerden anfangs Entsetzen geherrscht, die Betroffenheit sei noch immer groß, schilderte der Bürgermeister von Attendorn, Christian Pospischil. Auch er frage sich: »Ist das niemandem aufgefallen?« Er gab aber zu bedenken, dass letztendlich Hinweise zur Befreiung geführt hätten. »Insofern glaube ich schon, dass da in gewissem Maße die soziale Kontrolle funktioniert hat.« Die Familie habe in dem Ort »nicht besonders zurückgezogen, aber auch nicht besonders prominent« gelebt.
Seit Oktober 2020 seien einzelne anonyme Meldungen - per Brief und einmal telefonisch - eingegangen, wonach sich die Mutter in dem Haus aufhalte, sagte Michael Färber vom Jugendamt. Die Frau hatte sich im Sommer 2015 aus Attendorn abgemeldet und für sie und ihre Tochter einen neuen Wohnort in Italien angegeben. Laut Jugendamt konnten Vorwürfe einer möglichen Kindeswohlgefährdung anhand der Hinweise aber nicht konkretisiert werden. Entscheidend aktiv wurden die Behörden erst nach einem Hinweis eines Ehepaars vom Juli 2022.
Um eine Überprüfung des Vorgehens des Jugendamts komme man nicht umhin, sagte Oberstaatsanwalt von Grotthuss. Es könne in Richtung Körperverletzung durch Unterlassen gehen. Attendorns Bürgermeister Pospischil sagte, manche müssten sicher ihre eigene Rolle hinterfragen. Es dürften aber keine konkreten Vorwürfe erhoben werden, bevor nicht alles hinterleuchtet sei, mahnte er.
»Man kann nur hoffen, dass das Kind in irgendeiner Weise wieder einholen kann, was es verpasst hat«, sagte ein Attendorner am Dienstag. Michael Färber vom Jugendamt betonte, das Kind sei jetzt in guten Händen. Es sei bei einer Pflegefamilie untergebracht, werde psychologisch betreut. Man habe großes Interesse, das Kind jetzt zu schützen - auch vor der Öffentlichkeit, sagte Färber.
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