Die Felder sind riesig, die alten Wallhecken verschwunden. Bäume wurden gefällt, um die Straßen gerader und breiter zu machen. Viel größer sind inzwischen auch die Bauernhöfe, dafür gibt es von ihnen viel weniger. In den Dörfern haben zudem die kleinen Lebensmittelläden, die Schulen und die Gasthöfe geschlossen. Kaum mehr laufen sich die Menschen dort zufällig über den Weg. So sieht sie aus, die Flurbereinigung, die mit ihren Folgen seit den 1970ern das Gesicht unserer ländlichen Regionen verändert hat.
Dem Thema hat die norddeutsche Bestsellerautorin Dörte Hansen (»Altes Land«) 2018 einen Roman mit dem Titel »Mittagsstunde« gewidmet. Die in der nordfriesischen Heimat Hansens angesiedelte Geschichte hat der ebenfalls von dort stammende Regisseur und Produzent Lars Jessen (»Für immer Sommer 90«) still, stimmig und stimmungsvoll verfilmt.
Ein Dozent kehrt in sein Dorf zurück
Der Kieler Dozent Ingwer Feddersen verlässt seinen Uni-Job und seine seltsame Dreier-WG für einige Zeit, um sich um seine beiden »Alten« in seinem nordfriesischen Heimatdorf Brinkebüll zu kümmern. Doch auch in der Vergangenheit war nicht alles so geordnet, wie es damals schien, wie Ingwer feststellen muss. Noch einmal stellt sich dem Mittvierziger die Frage, wer er wirklich ist und wohin er gehört.
Mit dem Charakterdarsteller und Publikumsliebling Charly Hübner (»Polizeiruf 110«) in der Hauptrolle kommt das gleichnamige Drama am Donnerstag (22. September) in die Kinos. Bei deutlichen Zeitsprüngen zeigt Jessen die Veränderungen und Verwerfungen in melancholisch realistischen Bildern. Brutal sieht es aus, wenn Lastwagen und Autos vorbei an teils leerstehenden Häusern mit ihren sprossenlosen Fensterlöchern auf asphaltierten Fahrwegen durch die fiktive Ortschaft Brinkebüll donnern – und schon mal ein Rad fahrendes Kind überrollen.
Wunderbare Darsteller auch neben Charly Hübner
Für anrührende Innerlichkeit sorgen dafür wunderbare Darsteller, zu denen in den Rollen der Großeltern und hinfälligen Gastwirtsleute auch Hildegard Schmahl (»Der junge Häuptling Winnetou«) und Peter Franke (»Ostfriesenblut«) gehören. Beide Schauspieler scheuen sich nicht, ihre nackte Haut sowie weitere körperliche und geistige Altersspuren vorzuführen.
»Op platt« (auf Plattdeutsch) verständigen sich die Charaktere in einer der beiden Fassungen des Films – der mit Untertiteln zu sehen sein wird. Eine hochdeutsche Version wurde ebenfalls gedreht.
Wie es nordfriesischen Landleuten zu eigen ist, läuft deren Verständigung beziehungsweise Nicht-Verständigung aber eher nonverbal. »Na – wat sechst du?« (Was sagst du?) – so lakonisch klingt hier wohl landesüblich eine herzliche Begrüßung nach Jahrzehnten unter Jugendfreunden. Gerade Hübner, eigentlich eine wuchtige Erscheinung, nimmt sich bemerkenswert zurück als Großstadtmensch, der durch seinen Pflegeeinsatz Abbitte leisten will, weil er meint, die beiden Alten und ihren »Krog« (Gasthaus) einst im Stich gelassen zu haben. So deutet er Ingwers Rührung, seine Erinnerungen und seine Suche nach Klärung der Verhältnisse vor allem mit feinem Mienenspiel an.
Vergangenheit bringt einiges durcheinander
Wobei sein Ingwer auf Vorkommnisse in der Vergangenheit stößt, die seine Identität nachhaltig berühren. Was auch mit dem verstörten und verträumten, inzwischen längst toten Dorfmädchen Marret (Gro Swantje Kohlhof) zu tun hat. Dabei sollte erwähnt werden, dass mit Lennard Conrad als jungem Ingwer sowie in Gabriela Maria Schmeide und Rainer Bock als den jungen »Olen« ebenfalls exzellente Besetzungen gefunden wurden.
Bei der Deutschlandpremiere am Montagabend (12. September) in Husum, als gut tausend Zuschauer dem anwesenden Team applaudierten, erklärte die Buchautorin Hansen, dass sich in der Geschichte auch ein wenig ihr eigenes Leben spiegele. »Das ist wie bei vielen Leuten, die vom Dorf kommen und erstmal das Gefühl haben, ich will hier 'raus. Ich habe lange in der Stadt gelebt und hatte immer wieder Sehnsucht«, sagte die 58-Jährige im Gespräch mit der dpa. Seit sechs Jahren lebt sie wieder in einem Dorf in der Nähe von Husum. Und sagt: »In Hamburg hätte ich keinen Roman schreiben können – ich brauche eine freigeräumte Landschaft und mehr Himmel über mir.«
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