Es sind nicht das Gepränge und die perfekte Inszenierung, die beim Staatsbegräbnis für Königin Elizabeth II. den größten Eindruck hinterlassen. Nicht die 98 Marinesoldaten, die den Sarg mit Staatskrone, Zepter und Reichsapfel auf einem Geschützwagen von der Westminster Hall zur Westminster Abbey ziehen. Nicht die schwarzen Staatskarossen, die prunkvollen Uniformen und Staatsroben. Beeindruckender als all das ist die Stille.
Zwei Minuten Stille, sowohl in der Westminster Abbey, in der an diesem Montag die Großen der Welt versammelt sind, als auch draußen in den Straßen von London und im ganzen Land, wo das Geschehen von Millionen Menschen verfolgt wird. Die Stille ist vollständig – doch auf gewisse Weise auch ohrenbetäubend. Großbritannien hält den Atem an. Aus Respekt und Ergriffenheit. Aber auch in banger Erwartung: Was kommt nach der Queen?
Westminster Abbey. Seit fast 1000 Jahren sind diese Kathedrale und ihr Vorgängerbau der Ort, an dem Englands Royals heiraten, gekrönt und zu Grabe getragen werden. Jetzt steht Elizabeths Sarg unter dem gotischen Fächergewölbe.
Staatsoberhäupter aus aller Welt zu Gast
Fast alle sind gekommen: US-Präsident Joe Biden – er weigerte sich standhaft, für die Anfahrt einen Autobus besteigen zu müssen - , der japanische Kaiser Naruhito, der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – kaum einer hier hat je von ihm gehört – und Repräsentanten aus Königreichen, die auf der Insel mitunter als »bicycle monarchies« verspottet werden - halbbürgerliche »Fahrradmonarchien«, die sich nach britischer Auffassung viel zu sehr ans Volk ranwerfen. Eine solche Massierung von Staats- und Regierungschefs hat die Welt selten gesehen. So ist dieser Tag für die Briten auch ein Tag der Selbstvergewisserung. Das Weltreich ist dahin, aber die Liebe zum großen Auftritt ist geblieben.
Im Mittelpunkt steht natürlich die königliche Familie. Drei Generationen sind vertreten, von König Charles (73) bis zu seinen Enkeln George (9) und Charlotte (7). Dazwischen stehen William (40) und Harry (38). Fast auf den Tag genau 25 Jahre ist es her, seit die beiden Brüder dem Sarg ihrer Mutter folgten. Jetzt sind sie wieder in einem Leichenzug nebeneinander hergeschritten, doch ihr Verhältnis zueinander hat sich seitdem stark verändert. Harry und seine Frau Meghan haben der königlichen Familie den Rücken gekehrt.
Viele Plätze für Vertreter der Commonwealth-Staaten
Die Vertreter der Commonwealth-Staaten haben im Verhältnis besonders viele Plätze in der Kirche bekommen. Der sehr lockere Staatenverbund, der aus dem Britischen Empire hervorging, lag der Queen sehr am Herzen. Doch in den vergangenen zehn Tagen ist bereits deutlich geworden, dass ihr Ableben die Debatte um den britischen Kolonialismus intensivieren wird. Schon werden vor allem in den USA Forderungen laut, man müsse untersuchen, inwiefern gerade auch die Königsfamilie von der Ausbeutung fremder Völker profitiert hat. »Solange sie regierte, konnte das Establishment die Schrecken übertünchen«, analysiert die Kolumnistin Afua Hirsch. »Jetzt ist die Zeit für schmerzliche Wahrheiten gekommen.« Das Empire schlägt zurück.
In einer wohltemperierten Predigt preist der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, die Queen für ihre Unerschütterlichkeit. Am bewegendsten ist die Stelle, an der er an die viel beachtete Rede der Queen während der Corona-Pandemie erinnert. Elizabeth hatte ihren Untertanen damals Mut zugesprochen und gesagt: »Wir werden uns wiedersehen.« Das gelte für gläubige Christen wie die Queen auch für die Zeit nach dem Tod, versichert das geistliche Oberhaupt der Kirche von England.
Fast erwartet man in diesem märchenhaften Setting, dass im nächsten Moment noch der Bär Paddington die Stufen für eine Ehrbezeugung erklimmt - der Kinderbuchheld, dem die Queen in einem animierten Kurzfilm zu ihrem 70-jährigen Thronjubiläum eine so zauberhafte Audienz gewährt hatte.
»Monarchie ist eine Art Religion«
»Die Monarchie ist eine Art von Religion«, hat die Zeitung »The Guardian« konstatiert, und das bestätigt sich in diesem Gottesdienst. Die Queen hat jetzt Heiligenstatus, das zeigten schon die beispiellosen Pilgerströme zu ihrem Sarg in den vergangenen Tagen. Viele Briten fühlen sich in diesen Tagen miteinander verbunden. Spürbar ist, dass sie sich nicht nur von ihrer Königin verabschieden, sondern auch ein neues Kapitel aufschlagen in ihrem eigenen Leben. Viele erinnern sich an den Tod ihrer Eltern und Großeltern. So fällt hier das Allgemeine mit dem Persönlichen zusammen, und gerade das ist es, was dem Ereignis ein solches Gewicht verleiht.
Was immer jetzt kommt, es ist ein Aufbruch ins Ungewisse. Man braucht Mut, um nach vorn zu schauen. Wenn dieser Tag zuende ist, dann ist da erst einmal nur noch die Aussicht auf einen sehr dunklen, sehr kalten Winter. Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation, Rezession, Brexit-Folgen und vielleicht eine neue Corona-Welle. Es ist der blanke Horror, der den Briten da ins Haus steht. Vielleicht haben sie den Abschied von ihrer Queen auch deshalb so lange wie möglich ausgekostet.
Kurz bevor der Sarg aus der Kathedrale getragen wird, ertönt die schwermütige Musik des persönlichen Dudelsackspielers der Königin. Es war »the Queen's Piper«, der jeden Morgen, wenn sie in Schottland weilte, unter ihrem Schlafzimmer stand, um sie mit seinen Melodien zu wecken. »Sleep, Dearie, Sleep« spielt er nun. »Schlaf, Liebes, schlaf«.
Elizabeth hatte eine Schwäche für die Weite des Landes, das dramatische Licht, den Zauber der Lochs und Glens (Seen und Täler). Und so mag es tröstlich sein, dass sie eben dort, auf ihrem Landsitz Balmoral, auch gestorben ist. Schottlands Zukunftsperspektive allerdings könnte sich durch ihren Tod verändert haben: »Es ist nun ziemlich wahrscheinlich, dass die Schotten die britische Union verlassen werden, um der europäischen wieder beitreten zu können«, glaubt der Historiker und Karlspreisträger Timothy Garton Ash.
»God Save the King!«
»God Save the King!« Während die Nationalhymne in neuer Form gesungen wird, treten Charles die Tränen in die Augen. Für fast alle heute Lebenden wird es jetzt nur noch Könige geben: Charles, William, George... Elizabeth ist Vergangenheit.
Ein letztes Mal gleitet ihr Sarg nun an den Orten vorbei, an denen sie ihre großen Auftritte hatte. Das von Big Ben überragte Parlamentsgebäude, in dem sie jedes Jahr die Thronrede vorlas. Die Horse Guards Parade, der Exerzierplatz, auf dem immer die operettenhafte Militärparade »Trooping the Colour« zu Ehren ihres Geburtstags stattfand. Die Prachtstraße The Mall mit imperial überdimensionierten britischen Nationalflaggen, auf der ihr noch im Sommer zu ihrem Thronjubiläum die Massen zujubelten. Und dann der Buckingham-Palast, ihr Wirkungsort so vieler Jahre, mit dem Denkmal von Königin Victoria, die immer ein wenig wie eine strickende Großmutter aussieht.
Vom Triumphbogen Wellington Arch geht es weiter nach Windsor. Dort wird am Spätnachmittag in der St.-George-Kapelle der Aussegnungsgottesdienst abgehalten. In hochsymbolischen Handlungen werden die Staatsinsignien vom Sarg genommen, und dann zerbricht das Oberhaupt des königlichen Haushalts seinen Dienststab. Es sind Rituale, wie sie nur in einem Land vorstellbar sind, das - ganz anders als Deutschland - seit Jahrhunderten keine plötzlichen Brüche und politischen Katastrophen gekannt hat.
Die eigentliche Beisetzung der Queen bleibt den Blicken der Öffentlichkeit verborgen: In einer privaten Zeremonie soll sie am Abend in einer kleinen Seitenkapelle ihre letzte Ruhe finden - neben ihrem geliebten Mann Philip. Er, der 99 Jahre alte Herzog von Edinburgh, war erst vor gut einem Jahr zu Grabe getragen worden. Damals hatte die Queen allein und zerbrechlich mit einer schwarzen Corona-Maske am Ende einer Kirchenbank in der St.-George-Kapelle gesessen – ein rührendes Bild. Nun ist das Paar wieder vereint.
Es ist der Tag des unwiderruflichen Abschieds. Doch wenn die Briten in vielen Jahren auf dieses Ereignis zurückblicken werden, dann könnte es sein, dass sie sagen: Ja, es war ein Schlusspunkt. Aber es war auch der erste Schritt in eine neue Zeit.
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