Als John Burleigh acht Jahre alt war, fuhr seine Mutter mit ihm nach Edinburgh, um dort die junge Königin Elizabeth zu sehen. »Sie glitt in einer schwarzen Limousine an mir vorbei, und ich habe ihr gewunken. Sie hat auch gewunken.« Seitdem hatte er das Gefühl, dass da ein besonderes Band zwischen ihnen beiden existierte.
Es ist deshalb für ihn keine Frage, dass er an diesem Montag wieder hier in Edinburgh ist, mittlerweile 69 Jahre alt. Gemeinsam mit seiner Frau Heather ist er aus der Nähe von Glasgow angereist, um der Königin die letzte Ehre zu erweisen. Im Schottenkilt steht er vor der St.-Giles-Kathedrale und wartet auf die Prozession mit dem Sarg.
Seit dem frühen Morgen harren Tausende Schottinnen und Schotten vor den Absperrgittern an der Royal Mile aus. Diese Königliche Meile sieht völlig anders aus als die Mall in London, die bombastische Prachtstraße, die nächste Woche beim Staatsbegräbnis der Queen mit riesigen Union Jacks geschmückt sein wird. Die Royal Mile ist relativ schmal, sie windet sich durch die mittelalterliche Altstadt von Edinburgh.
Ein intimeres Verhältnis
Wenn hier die Prozession mit dem Sarg über das Kopfsteinpflaster stampft und ruckelt, angeführt von König Charles III., dann ist man hautnah dabei. Und das ist bezeichnend, denn das Verhältnis der Schotten zur Queen war immer schon etwas intimer.
Elizabeth II. war eine englische Königin, geboren in London, der Stadt, von der aus seit dem Mittelalter zahllose Eroberungsfeldzüge und Strafexpeditionen gegen Schottland geplant worden sind. Zu Beginn von Elizabeths Amtszeit beschmierten oder beschädigten schottische Nationalisten immer mal wieder rote Briefkästen, auf denen »ERII« (Elizabeth Regina II.) stand: Denn in Schottland hätte sie eigentlich Elizabeth I. heißen müssen, da das Land zur Zeit der englischen Tudor-Königin Elizabeth I. im 16. Jahrhundert noch eine eigene Königin hatte - die legendäre Mary Stuart.
Solche Vorfälle sind heute undenkbar. Zwar strebt ein großer Teil der Schotten bekanntlich den Austritt aus dem Vereinigten Königreich an, zwar will nach einer im Mai veröffentlichten Umfrage nur eine Minderheit von 45 Prozent die Monarchie beibehalten - aber das richtet sich nicht gegen die Queen. Sie wurde auch hier im Norden geliebt.
Allerdings hatten die Schotten ein anderes Bild von Elizabeth als die Engländer, und das zeigt sich auch an diesem Montag in Edinburgh. Anders als in London, wo jetzt an jeder Ecke und in nahezu jedem Schaufenster ein riesiges schwarz umrandetes Bild von ihr prangt, gibt es im Straßenbild der schottischen Hauptstadt nur wenige zur Schau gestellte Trauerbekundungen. Auch wenn die Schotten über Elizabeth reden, ist der Ton ein anderer.
»Nicht nur Königin, sondern auch Nachbarin«
Es fehlt das Pathetische, auch Devote, das etwa den in London produzierten Fernsehsendungen eigen ist. Die Schotten sprechen über die Queen wie über eine liebenswürdige alte Bekannte. »Nicht nur Königin, sondern auch Nachbarin«, ist eine vielfach verwendete Wendung hier oben.
Wenn die Queen irgendwo Privatfrau gewesen ist, dann in Schottland. Auf Balmoral, jenem Schloss, das Königin Victoria einst auf Drängen ihres Gatten Albert erwarb, weil ihn das Umland mit seinen tiefen Wäldern an seine deutsche Heimat erinnerte, verbrachte Elizabeth ihre Sommerurlaube. Ihre Definition von Sommer war dabei eigenwillig: Der Besuch der alten Dame begann meist Ende Juli und dauerte bis in den Oktober. Zehn Wochen Schottland. Es war, als widerstrebte es ihr jedes Mal, aus der Einsamkeit der Highlands in die lärmende Metropole London zurückzukehren.
Begegnungen mit der Queen
In Schottland kursieren zahllose Geschichten von Wanderern, die der Queen im Laufe der Jahre in der wildromantischen Natur begegnet sind und lange mit ihr geplaudert haben, ohne sie zu erkennen. Von zwei Amerikanern machte sie einmal sogar auf deren Wunsch hin ein Foto - sie selbst war also nicht mit auf dem Bild.
»Sie war so eine Lady, so würdevoll«, schwärmt Eirlys aus Glasgow, die es sich auf einem Klappstuhl an der Royal Mile bequem gemacht hat. Ihre Begleiterinnen Amy, Rebecca und Fiona haben sich in dicke Decken eingekuschelt. Denis Melvin aus Wales wiederum, ausstaffiert mit schwarzem Schlips und Union-Jack-Schuhen, harrt zusammen mit seinen beiden Hunden auf dem Boden direkt vor dem Absperrgitter aus.
Die Stimmung hat insgesamt eher etwas von Volksfest als von Staatstrauer. Es liegt zwar eine gewisse Melancholie in der Luft, aber gleichzeitig ist man glücklich, dabei zu sein. Und dann hat sie ja nun mal auch einfach ein gesegnetes Alter erreicht.
Tendenziell sind eher ältere Menschen als jüngere hier. Der 22 Jahre alte Mark Green studiert derzeit in Köln, aber an diesem Tag ist er zurück in Edinburgh - er war sowieso in Schottland auf Familienbesuch. »Ich würde sagen, der Tod der Queen war für mich nicht so einschneidend wie für einige ältere Familienmitglieder bei uns«, bekennt er. »Aber auch mir ist bewusst, was es bedeutet, dass die Queen gerade hier in Schottland gestorben ist, und ich bin dankbar, dass ich ihr in meinem Heimatland die letzte Ehre erweisen kann.«
Kulisse eines Historiendramas
Ein Radiomoderator empfindet die Situation als »surreal«, man komme sich vor wie in einem Film, sagt er. Es sieht hier wirklich aus wie in der Kulisse eines Historiendramas. Ein letztes Mal wird die Queen an den berühmten Sehenswürdigkeiten der Old Town vorbeiziehen: an den goldenen Handabdrücken, mit denen sich die Schriftstellerin J.K. Rowling im Pflaster verewigt hat - alle sieben Harry-Potter-Romane hat sie hier geschrieben. An den »Edinburgh Vaults«, einem Gewölbelabyrinth, das als »meistbespukter Ort Großbritanniens« (BBC) gilt. Und auch an den Souvenirshops, die Schottenmuster-Kleidung im »Prinzessin-Diana-Gedenk«-Look anbieten - was immer das sein mag.
Der letzte überlieferte Small Talk der Queen, im Gespräch mit einer Fotografin am vergangenen Dienstag, galt dem schottischen Wetter. Es war wie gewohnt schlecht. Doch jetzt ist der Himmel plötzlich aufgerissen, und alle Turmspitzen von Edinburgh funkeln im goldenen Herbstlicht. John Burleigh wird wohl bis tief in die Nacht anstehen, um in der Kathedrale am Sarg der Queen vorbeigehen zu können und ihr »Farewell« (Lebewohl) zu sagen. »Ich werde sie aufgebahrt sehen«, sagt er, den Blick in die Ferne gerichtet, zum Meeresarm Firth of Forth, den man von der Royal Mile aus sehen kann. »Sie war eine wunderbare Lady«, sagt er. »Ein Vorbild für uns alle.«
© dpa-infocom, dpa:220912-99-728733/5