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Aktuell Weltethos-Rede

Steinmeiers Tübinger Plädoyer für Verständigung

Präsident Steinmeier fordert in Tübingen Gespräche über die Grenzen der jeweiligen Filterblasen

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Gespräch nach seiner Weltethos-Rede im Festsaal der Universität Tübingen.FOTO: PIET
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Gespräch nach seiner Weltethos-Rede im Festsaal der Universität Tübingen.FOTO: PIETH Foto: Frank Pieth
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Gespräch nach seiner Weltethos-Rede im Festsaal der Universität Tübingen.FOTO: PIETH
Foto: Frank Pieth

TÜBINGEN. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat seine Weltethos-Rede im Festsaal der Universität Tübingen gestern Abend genutzt, um eindringlich für Gesprächsbereitschaft und Verständigung innerhalb der deutschen Gesellschaft und auch international zu werben. Mit vielen Verweisen auf die Großen der jüngeren Tübinger Geschichte pries das Staatsoberhaupt vor gut 700 geladenen Zuhörern die vom Tübinger Theologen Hans Küng ausformulierte Idee des Weltethos. Sie sei, so Steinmeier, »keinesfalls obsolet geworden«, sondern »im Gegenteil von unerhörter historischer Dringlichkeit«.

Bernd Engler, der Rektor der Universität, hatte bei der Begrüßung Steinmeiers zuvor festgestellt, die seit dem Jahr 2000 gehaltenen Weltethos-Reden hätten mit Blick auf die fragiler erscheinenden Ordnungen der Welt in den vergangenen Jahren noch an Bedeutung zugenommen. Eberhard Stilz, der Präsident der Stiftung Weltethos, wertete es als »Auszeichnung und Ermutigung«, dass der Bundespräsident die Rede hielt.

Steinmeier würdigte Hans Küng, der selbst aus Gesundheitsgründen nicht im Saal war, als »großen Gelehrten, der – obwohl bis heute Schweizer Staatsbürger – über Jahrzehnte hinweg weltweit den Ruf Deutschlands als Ort von Theologie und Universitätsgelehrsamkeit gestärkt hat«. Küngs Engagement für den Frieden und für die Verständigung unter den Religionen sei unverändert aktuell.

Steinmeier zitierte zustimmend den Philosophen Jürgen Habermas, der »einen empfindlichen, ja zerstörerischen Mangel an öffentlicher Kommunikation über die Grundlagen des Zusammenlebens« als ein Hauptproblem der Gesellschaft identifiziert habe. Nachdrücklich plädierte der Bundespräsident für das »Gespräch zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugung und Einstellung«.

Als positives Beispiel nannte Steinmeier die Universität Tübingen in den 60er-Jahren, als dort gleichzeitig der Marxist Ernst Bloch und der spätere Papst Joseph Ratzinger lehrten. Der eine schrieb über »Atheismus im Christentum«, der andere seine »Einführung in das Christentum«. Die beiden hätten gegensätzliche Welten verkörpert, seien aber nicht jeder in seiner »Filterblase« geblieben, sondern hätten die Auseinandersetzung miteinander gesucht, so Steinmeier. »Ein gemeinsames Ethos, das unserem Zusammenleben in unserer eigenen Gesellschaft, aber eben auch weltweit zugrunde liegen soll, ermöglicht und braucht genau solches Gespräch und Hören voneinander.« Steinmeier wandte sich auch vehement gegen den weltweiten Trend zum Rückzug auf die Nation oder die eigene Religion: »Die heute mit wutverzerrter Miene vorgetragenen Verheißungen des neuen Nationalismus oder Fundamentalismus meinen, die Tore und Wege ließen sich zusperren, die globalen Verbindungen abbrechen. Doch das Gegenteil ist der Fall.« Tatsächlich nähmen die »globalen Verbindungen, Abhängigkeiten, Probleme und Näheverhältnisse noch immer zu«.

In der Auseinandersetzung mit Nationalisten und Fundamentalisten setzt der Bundespräsident auf »Ruhe und Besonnenheit« sowie auf Gespräche, »wo Gespräche möglich sind«, um »die infame Rede von den ›Feinden des Volkes‹ als böse Verlogenheit zu entlarven und die Anliegen derer, die sich ungehört oder unverstanden glauben, mit ehrlicher, glaubhafter Offenheit aufzunehmen«. Mit Unvernünftigen zu reden, dürfe aber nicht bedeuten, sich auf das gleiche Niveau zu begeben, betonte Steinmeier.

Angesichts des extrem bedrohlich erscheinenden Klimawandels und anderer ökologischer Fragen, warnte der Präsident auch davor, deshalb die Demokratie infrage zu stellen, weil sie vermeintlich zu behäbig reagiere.

Beim Gespräch mit Stilz und der Weltethos-Mitarbeiterin Anna Tomfeah schilderte Steinmeier im Anschluss an die Rede noch eindrücklich die aktuelle Diskussionskultur. So war er nach dem Attentat von Halle dorthin zur Synagoge und dem Dönerladen gereist. Daraufhin kam in sozialen Netzen der Vorwurf auf, er habe nur mit Juden getrauert und gesprochen, nicht aber mit Muslimen. Es beteiligten sich laut Steinmeier daraufhin Tausende, »die keine Ahnung hatten«, an der Internetdebatte. »Da haben wir ein schreckliches Ereignis, das möglicherweise die Republik verändert, aber gestritten wird in den sozialen Medien darüber, ob man an der richtigen Stelle Blumen abgelegt hat.« (GEA)

HINTERGRUND

Die Weltethos-Stiftung und die Weltethos-Reden

Der Tübinger Theologe und Buchautor Hans Küng gründete die Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung in Tübingen 1995. Der Unternehmer Graf K. K. von der Groeben, der das Buch »Projekt Weltethos« gelesen hatte, stellte dafür Geld bereit, heißt es auf der Internetseite der Stiftung. Ihre obersten Ziele sind demnach »die Vermittlung ethischer und interkultureller Kompetenz sowie Dialog, Zusammenarbeit und Frieden zwischen den Religionen und Kulturen«. Um den Bewusstseinswandel im Ethos auf allen Ebenen der Gesellschaft und in allen Regionen der Erde voranzutreiben, führe die Stiftung Weltethos weltweit Projekte durch.

Seit 2000 organisiert die Stiftung Weltethos mit der Universität Tübingen die Weltethos-Reden in der Universitätsstadt. In den Reden nehmen herausragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus unterschiedlichen Blickwinkeln zur Weltethos-Thematik Stellung. In den Vorjahren waren das unter anderen der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm, Ministerpräsident Winfried Kretschmann sowie die Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und Shirin Ebadi. (eks)