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»Sie fahren nach Hause, um den Pass zu verlängern«

Was dran ist am »Sozialtourismus«-Vorwurf und was Flüchtlinge aus der Ukraine dazu sagen

Ukraine-Geflüchtete
Ukrainische Flüchtlinge verlassen mit ihrem Gepäck die Flüchtlingsunterkunft in Hamburg. Foto: Marcus Brandt
Ukrainische Flüchtlinge verlassen mit ihrem Gepäck die Flüchtlingsunterkunft in Hamburg.
Foto: Marcus Brandt

BERLIN. In Dresden wird die Messe als Notunterkunft vorbereitet, Leipzig plant Zeltstädte, auch Berlin hat nur noch wenige Plätze: Die Unterbringung von Geflüchteten bringt im Moment viele Städte ans Limit.

- Wo kommen die geflüchteten Menschen her?

Die Zahlen sind ähnlich hoch wie in den Flüchtlingsjahren 2015 und 2016, doch ist auch einiges anders. Der allergrößte Teil der dieses Jahr nach Deutschland geflüchteten Menschen kommt aus der Ukraine. Nach offiziellen Angaben wurden im Ausländerzentralregister bis zum 8. Oktober genau 1 002 668 Personen erfasst, die im Zusammenhang mit dem russischen Angriff vom 24. Februar aus der Ukraine nach Deutschland eingereist sind. Rund ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Mehr als 70 Prozent der Erwachsenen sind Frauen. Hinzu kamen nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bis Ende September 134 908 Menschen aus anderen Ländern, die erstmals einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben. Das ist rund ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum. In diesem Jahr suchten also bisher zusammen schon gut 1,1 Millionen Menschen Schutz in Deutschland. Zum Vergleich: 2015 wurden hier 441 899 Erstanträge auf Asyl registriert, 2016 waren es 722 370.

Allerdings ist unklar, wie viele Menschen aus der Ukraine die Bundesrepublik schon wieder verlassen haben. Migrationsforscher verweisen darauf, dass zeitweise mehr Ukrainerinnen und Ukrainer aus der Europäischen Union zurück in ihre Heimat gingen als umgekehrt. Die Besonderheit bei den Geflüchteten aus der Ukraine ist zudem: Sie bekamen hier sofort Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis, sie mussten nicht in Sammelunterkünfte und nicht in Asylverfahren.

- Ist der Missbrauch von Sozialleistungen dokumentiert?

Nach Auskunft des Bundesarbeitsministeriums in Berlin gibt es dazu keine Erkenntnisse. Allerdings weist die Behörde darauf hin, dass es ohne dauerhaften Aufenthalt keinen Leistungsanspruch gibt. Bei Missbrauch würden die Jobcenter die Leistungen kürzen. Etwa wenn die Post nicht zustellbar wäre, Sprachkurse nicht besucht oder Beratungsgespräche nicht wahrgenommen würden.

- Was ist dran am »Sozialtourismus«-Vorwurf?

Nichts. CDU-Chef Friedrich Merz hat diesen abwertenden Begriff benutzt und damit eine politische Debatte ausgelöst. Er sagte: »Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine.« Diese Aussage im Internet löste eine Welle der Empörung aus. »Schäbig« fand Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Äußerung, Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann warf Merz vor, sich mit Methoden von Rechtspopulisten profilieren zu wollen. Daraufhin entschuldigte sich Merz für seine Wortwahl, löschte den Internet-Tweet und schrieb als Erklärung: »Das war eine unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems.«

Fakt ist, dass durch den Krieg zahlreiche ukrainische Familien getrennt wurden. Die Männer mussten in den Krieg ziehen und ihr Land verteidigen. Sie schickten ihre Frauen und Kinder ins Ausland, damit sie nicht von russischen Angriffen getötet werden. Andere Ukrainer, die nach Deutschland oder in andere Länder flohen, mussten ihre alten, nicht mehr reisefähigen Eltern oder Großeltern zurücklassen. Manche ukrainischen Flüchtlinge haben deshalb Reisen in ihre Heimat unternommen, um ihre Angehörigen zu besuchen, von denen sie aufgrund des russischen Angriffskrieges getrennt wurden und die auf ihre Hilfe angewiesen sind. Im MDR schreibt der Deutsche Kevin Ritter, der mit einer Ukrainerin verheiratet und vor dem Krieg mit seiner Frau und einem sieben Monate alten Baby aus der Ostukraine nach Deutschland geflohen ist. Zu den Vorwürfen sagte er: »Natürlich fahren Ukrainerinnen nach Hause, doch bestimmt nicht, um Sozialgeld abzuliefern. Wir sprechen hier von Tausenden Kilometern, die sie selbst finanzieren. Sie fahren nach Hause, um den Pass zu verlängern und um die Menschen zu sehen, die sie lieben«, sagt Ritter.

- Will Ministerpräsident Kretschmann den Rechtsstatus der Flüchtlinge ändern?

Nach massivem Druck der Kommunen hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann einen Flüchtlingsgipfel in Baden-Württemberg angekündigt. Doch den Status der Ukraine-Flüchtlinge stellt der Grünen-Politiker nicht infrage. Kretschmann sagte, Baden-Württemberg habe sich nicht für den Rechtskreiswechsel eingesetzt. Doch sei es aussichtslos, im Bundesrat zu fordern, das wieder rückgängig zu machen. »Das muss man so akzeptieren.« Der Regierungschef beklagte, dass der Bund bisher seiner Zusage nicht nachkomme, sich an den Kosten für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten zu beteiligen. Baden-Württemberg habe schon jetzt eineinhalb Mal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie in der Migrationskrise 2015. (GEA/dpa)