BERLIN. Nachdem zuletzt die schöne Zahl von 100 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen durch die Hauptstadt geisterte, folgte am Donnerstag im Finanzministerium die Ernüchterung: Bund, Länder und Kommunen können nur mit etwa einem Drittel dieser Summe rechnen. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil stellte am Donnerstag in Berlin die neueste Steuerschätzung vor, und die kommt für den Zeitraum bis 2029 auf ein Plus von 33,6 Milliarden Euro im Vergleich zur Prognose vom Frühjahr. Die Schlussfolgerung des SPD-Politikers und Vizekanzlers war eindeutig. »Es gibt überhaupt keinen Grund, sich zurückzulehnen«, sagte Klingbeil. Für seine Kolleginnen und Kollegen im Kabinett haben die Zahlen spürbare Folgen. Der Finanzminister forderte sie auf, Vorschläge für Einsparungen im Bundeshalt »zügig vorzulegen«.
Denn unterm Strich kommt von dem Steuersegen beim Bund fast nichts an: Zwar dürften der Prognose zufolge die Einnahmen in den Jahren 2025 bis 2027 etwas höher ausfallen. Für 2028 und 2029 werden aber Mindereinnahmen erwartet. Im Haushalt 2026, der gerade aufgestellt wird, kann Klingbeil einerseits Steuermehreinnahmen in Höhe von 4,9 Milliarden Euro einplanen und das ist für sich genommen sehr viel Geld. Die Gesamtlücke jedoch, die er im Verbund mit der gesamten Regierung schließen muss, beläuft sich auf rund 34,2 Milliarden Euro. Freuen können sich deshalb vor allem Länder und Kommunen. Ihre Handlungsfähigkeit werde gestärkt, erklärte Klingbeil.
Den richtigen Weg eingeschlagen
»Ich kann Ihnen sagen: Die Ergebnisse der Herbstprojektion und jetzt auch der Steuerschätzung zeigen, dass wir einen richtigen Weg eingeschlagen haben«, erklärte Klingbeil, und fuhr mit einem »Aber« fort: »Die Ergebnisse zeigen eben auch deutlich: Das sind jetzt nur erste Schritte.« Der Vizekanzler wird in den nächsten Wochen intensive Gespräche mit seinen Kabinettskollegen führen müssen, im Bundestag dürften bei den Haushältern die Köpfe rauchen. Anstrengende Debatten wird es mit Gesundheitsministerin Nina Warken geben. Das Kabinett hat zwar Maßnahmen zur Stabilisierung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschlossen. »Aber es ist jetzt Aufgabe auch der Gesundheitsministerin, Vorschläge zu machen, wie wir mit dem Pflegebereich umgehen, wie wir die Lücke dort schließen können«, forderte Klingbeil die CDU-Politikerin zu weiteren Reformschritten auf.
Nach dem regierungsinternen Streit um die Zukunft der Wehrpflicht, nach den teils heftigen SPD-Attacken auf Kanzler Friedrich Merz wegen dessen »Stadtbild«-Äußerungen, gab sich Klingbeil demonstrativ versöhnlich. Die Gespräche mit Warken liefen bereits und seien konstruktiv, betonte er. An anderer Stelle lobte er Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) ausdrücklich für ihre Arbeit.
Der SPD-Politiker wird den Rückhalt seiner Regierungskollegen noch gebrauchen können. Schwarz-Rot will die Mehrwertsteuer in der Gastronomie für Speisen auf sieben Prozent absenken und die Pendlerpauschale erhöhen. Die Bundesländer jedoch verweisen auf entsprechende Ausfälle in ihren Budgets und fordern einen Ausgleich vom Bund. Klingbeil weigert sich. Eine Lösung allerdings muss her, denn ohne eine Zustimmung des Bundesrates können die Wahlversprechen – zu denen noch die Erhöhung der Ehrenamtspauschale kommt – nicht umgesetzt werden. Die Länderkammer tagt voraussichtlich am 20. Dezember, bis dahin hat Klingbeil noch Zeit, einen Kompromiss zu finden.
Gleichzeitig gehen die grundsätzlichen Debatten zwischen den Koalitionsfraktionen von Union und SPD munter weiter. Frauke Heiligenstadt, die finanzpolitische Sprecherin der SPD im Bundestag, etwa erklärte mit Blick auf die Steuerschätzung: »Wir können die Finanzierungslücke nicht durch Einsparungen im Sozialstaat schließen. Das würde die Schwächsten unserer Gesellschaft treffen.« Ihre Partei setze sich deshalb »für ein faires Einkommen- und Erbschaftsteuersystem ein, in dem stärkere Schultern mehr Verantwortung übernehmen.« Das stößt in der Union auf Widerstand.
Druck auf die Regierung kam außerdem von Industrie und Handwerk. BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner erklärte, die Industrie sehe »trotz der hohen Steuereinnahmen weiterhin erheblichen Konsolidierungsdruck für den Bundeshaushalt.« Holger Schwannecke, Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, sah das genauso. »Es wäre ein Fehler, den Konsolidierungsdruck nun zu lockern. Im Gegenteil: Die öffentlichen Ausgaben müssen weiter auf den Prüfstand«, sagte er. (GEA)

