Die kommende documenta in Kassel steht im Zeichen von Kollektivität und Austausch. Was bedeutet das für die Kunst, die ab Mitte Juni in der nordhessischen Stadt zu sehen sein wird?
»Diese documenta wird anders werden als die anderen«, sagt Jörg Sperling vom documenta-Forum mit Blick auf die asiatischen Einflüsse. In Asien habe man eine andere Herangehensweise an Kunst. »Während im Westen noch mehr auf das einzelne Kunstwerk abgestellt wird, steht dort das Prozesshafte stärker im Fokus.« Er erwarte diese documenta mit ganz besonderer Spannung, sagte der Vorsitzende des Vereins, der die Ausstellungen kritisch begleitet. »Malerei, Plastiken, Aktionen, Performances - es wird sicher von allem etwas geben, aber den jeweiligen Anteil kann ich nicht vermuten.«
Sehr viel »lumbung«
Das Künstlerkollektiv Ruangrupa, das die künstlerische Leitung innehat, will eine bestimmte Tradition in den Fokus stellen: die indonesische Lumbung-Architektur. »lumbung« ist in dem Inselstaat das Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Diese Tradition des Teilens will das aus Indonesien stammende Künstlerkollektiv auf die Weltkunstausstellung in Kassel übertragen.
Die Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, kündigt an: Sehr viel »lumbung« werde zu sehen sein. Die Besucherinnen und Besucher erwarte eine vielfältige, experimentelle, auf kollektiven Prozessen aufbauende Schau. »Man wird die documenta fifteen als einen sinnlichen Ausstellungsbesuch mit – unter anderem – Malerei, Installationen, Filmen oder auch Musik und Performance erleben können.«
Ruangrupa und das Künstlerische Team wollten die Besucher aber insbesondere ermutigen, sich nicht allein als Betrachtende, sondern auch als Beteiligte zu verstehen, »sich auf Gespräche und Begegnungen einzulassen, gemeinsam zu essen, zu diskutieren und «nongkrong» zu betreiben, also Zeit miteinander zu verbringen – sich wie auf einem Fluss treiben zu lassen und an dem ein oder anderen Hafen einen Halt einzulegen«, führt Schormann aus.
Weltweit bedeutend
Noch sind nicht alle Künstler und Spielorte der Schau bekannt. Schormann kündigt die Veröffentlichung weiterer Namen und Orte für die kommenden Wochen an. Bereits bekannte Stätten sind neben Klassikern wie dem Fridericianum und der documenta-Halle unter anderem die Grimmwelt und das Ruruhaus, das als eine Art »Wohnzimmer« fungieren soll. Es setzt in der Kasseler Innenstadt bereits farbige und auch erste künstlerische Akzente.
Doch die 15. Ausgabe der documenta, die als weltweit bedeutendste Schau für zeitgenössische Kunst gilt, soll sich auch über die Kasseler City hinaus erstrecken. Ruangrupa wolle Zentrum und Peripherie miteinander verbinden und mehr als ein Zentrum schaffen, erläutert Schormann. So sind etwa ein ehemaliges Firmengelände und ein Hallenbad im Osten der Stadt erstmals Spielorte. »Eine besondere Rolle spielt dieses Mal auch die Fulda, die das Zentrum mit dem Kassler Osten verbindet«, erklärt Schormann.
Das Konzept scheint die Neugier der Kunstfans zu wecken. Mehr als 23.000 Tickets seien bereits verkauft worden, »und die Zahlen steigen stetig«, berichtet Schormann. Ein schönes Zeichen der Solidarität im Sinne von »lumbung« sei, dass aktuell über 2400 Solitickets verkauft worden seien. Mit ihnen bieten die Käufer einer anderen Person die Möglichkeit zum Besuch der documenta fifteen.
Im Stadtbild wirft die Schau bereits erste kleine Schatten voraus. Das bereits erwähnte Ruruhaus - in den documenta-Farben Orange, Grün, Violett und Gelb gehalten - verleiht dem Zentrum Farbe. Das eigens für die Ausstellung kreierte Bier von der örtlichen Hütt-Brauerei steht in den Supermarktregalen. Und in jeder Ausgabe des Straßenmagazins »Asphalt« zeigen beteiligte Künstlerinnen und Künstler Einblicke in ihre Praxis auf dem Weg zur documenta fifteen.
Ukraine-Krieg wird thematisiert
Das wohl eindrucksvollste bereits sichtbare Zeichen sind drei Banner der »Anti War Drawings« des rumänischen Künstlers Dan Perjovschi. Sie wurden kürzlich als Protest gegen den Krieg in der Ukraine am Fridericianum installiert. Neben gezeichneten Panzern ist darauf »Stop War«, »Stop Putin« und »Peace« zu lesen. Documenta-Experte Sperling hofft, dass auch andere Künstlerinnen und Künstler der Schau auf den Krieg Bezug nehmen.
Schormann zufolge gibt es einige unter ihnen, die aktuelles Geschehen in ihre Arbeiten einfließen lassen. »Einige der Beteiligten teilen Erfahrungen mit Krieg und bewaffneten Konflikten auch aus anderen Regionen weltweit.« Im Zuge der Prozesshaftigkeit der documenta fifteen werde der Ukraine-Krieg wahrscheinlich direkt oder indirekt auch Eingang in Beiträge anderer Künstlerinnen und Künstler finden.
Es bleibt also spannend, was die Besucherinnen und Besucher in Kassel am Ende tatsächlich erwarten wird. Die Vorbereitungen hätten an den meisten Ausstellungsorten bereits begonnen, sagt Schormann. Der Aufbau erster Arbeiten auch im Außenbereich werde bald anfangen. Die ganze Kunst der documenta fifteen wird dann vom 18. Juni bis zum 25. September erlebbar sein.
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