BERLIN. Doch, selbst ein Tom Odell kann sich mal locker machen. Als wir ihn in einem Berliner Hotel treffen, kommt er gerade aus Mallorca. Eine ganze Woche lang hat er mit seiner Frau Georgina in Sóller verbracht und dabei nur ganz selten an die Arbeit gedacht. Der englische Pianist, Songschreiber und Sänger, der jetzt sein neues Album »A Wonderful Life« veröffentlicht hat, gilt als Dauergrübler. Seinem Leben tut die Gedankenachterbahn nicht immer gut, seiner Kunst durchaus. In »Wonderful Life« begegnet der 34-Jährige seinem Publikum mal leise und folkig, dann wieder dramatisch, aber immer aufrichtig.GEA: Ihr erster Hit »Another Love« ist mehr als zehn Jahre alt und immer noch in den Charts. Warum nur?
Tom Odell: Ich hüte mich vor einer definitiven Antwort auf diese Frage, so berechtigt sie auch ist. Ich will es auch gar nicht so genau wissen. Fakt ist, dass die Menschen auf der ganzen Welt es lieben, »Another Love« zu singen. Es ist ebenso ihr Song wie mein Song. Ich bin natürlich sehr glücklich darüber, ein solches Lied geschrieben zu haben und singe »Another Love« noch immer mit derselben Leidenschaft wie eh und je.
»A Wonderful Life« sei der Abschluss einer Trilogie, sagten Sie. Inwiefern?
Odell: Eigentlich sind es sogar vier Alben, die ich in relativ kurzer Zeit veröffentlicht habe, angefangen 2021 mit dem düsteren und ziemlich verzweifelten »Monster« über »Best Day Of My Life«, das Hoffnungsschimmer enthielt, aber zugleich noch Zeugnis meiner Depression ablegte und sich trotz des Titels mit den dunkelsten Ecken meiner Seele auseinandersetzte. »Black Friday« war dann um einiges positiver, und jetzt mit »A Wonderful Life« habe ich so etwas wie Frieden und Erlösung gefunden.
Gehören Sorgen und Selbstzweifel vielleicht einfach zum Leben dazu?
Odell: Ja, dem würde ich zustimmen. Qualen sind ein Teil des Lebens. Wo Schatten ist, da ist aber auch Licht. Ich habe gelernt, mich dem Leben durch Staunen und Neugier zu nähern, mich auf Dinge einzulassen und nicht immer nur zu grübeln, zu grübeln und weiter zu grübeln.
Es ist gesünder, weniger nachzudenken?
Odell: Am gesündesten ist es wahrscheinlich, überhaupt gar nicht zu denken. Sondern nur zu leben. Sich treiben zu lassen wie ein Kind und mit großen Augen durch die Welt zu laufen. Mein Album dreht sich zu gewissen Teilen um dieses innere Kind, das ich schützen und nähren möchte.
Was macht das innere Kind aus?
Odell: Fantasie. Eine schier unendliche Vorstellungskraft und Neugier. Kaum jemand symbolisiert den Bezug zu seinem inneren Kind für mich besser als der Maler und Poet William Blake. Im vergangenen Jahr gab es eine William-Blake-Ausstellung in Hamburg, und ich habe eine Woche in der Stadt Urlaub gemacht, um jeden Tag in die Kunsthalle zu gehen. Ich habe mich Blakes Werk irrsinnig eng verbunden gefühlt, fast hatte ich das Gefühl, mit seinen Worten und Bildern zu verschmelzen.
Auf dem neuen Album gibt es den Folk-Song »Prayer«. Wenden Sie sich in diesem an den jugendlichen Tom?
Odell: Ja, ich hatte das Verlangen, mit meinem jüngeren Ich in einen inneren Dialog zu treten. Ich wollte mich besser verstehen lernen. Das war auf seltsame Weise sehr heilsam. In einigen der neuen Songs, sei es in »Strange House« oder in »The End Of Suffering«, begegne ich meinem kindlichen, noch unschuldigen und unbedarften Selbst.
Wie war er denn, der Teenage-Tom? Noch unbeschwert?
Odell: (lacht) Nein. In meinem Kopf war damals schon viel los. Das Gehirn ratterte, ich hatte vor so vielen Sachen Angst und habe mir immerzu Sorgen gemacht. Heute weiß ich, dass ich früh mit Angststörungen und Panik zu schaffen hatte, aber es hat lange gedauert, bis ich das realisierte. Ich war einfach immer ein gehemmter und ängstlicher junger Mann, so etwa bis 25. Ich kann heilfroh sein, dass ich schon als Kind meine Liebe zum Klavierspielen und zur Musik insgesamt entdeckte. So konnte ich meine Gefühle wenigstens teilweise konstruktiv verarbeiten, vielleicht wäre ich sonst wahnsinnig geworden.
Hat die Musik Ihr Leben gerettet?
Odell: Klingt kitschig, oder? Ich weiß es nicht, aber sie hat mich sicher vor noch ernsteren Schwierigkeiten bewahrt. Scheiße, Mann, jetzt tauche ich schon wieder so tief in meinen Kopf ein. (Pause) Den jungen Tom jedenfalls, den würde ich einfach mal kräftig in den Arm nehmen, ihm mit Verständnis und Freundlichkeit begegnen und ihm versprechen, dass er in zehn oder 15 Jahren glücklicher sein wird.
Sie verwenden in Ihren Liedern, verglichen mit anderen Popsongs, sehr viel Text.
Odell: Ja. Ich wähle meine Worte mit großer Sorgfalt aus, und ich liebe Sprache. Seit ich lesen kann, habe ich mich auf Bücher gestürzt. Ich wünschte ja auch, ich könnte von cooleren Hobbys erzählen, aber meine große Leidenschaft ist einfach das Lesen. Jack Kerouac, Alan Ginsberg, in meiner Jugend war ich verrückt nach diesen romantischen, gebrochenen, existenziellen Troubadouren. Mit einem Buch zusammen zu sein, macht mich manchmal glücklicher, als mit einem Menschen zusammen zu sein.
Weiß das Ihre Frau?
Odell: Das weiß sie (lacht). Es war von Anfang an klar, dass sie mich mit der Kunst würde teilen müssen. Ich habe leicht besessene Züge. Ich kann ganze Abende lang Rachmaninow hören. Oder Shakespeare lesen. Ich denke, ich bin ein ziemlicher Nerd.
In »Ugly« singen Sie über den Hass gegenüber Ihrem Körper.
Odell: Nicht nur gegenüber meinem Körper, sondern gegenüber mir als Ganzem. Ich weiß, dass das seltsam ist, doch es kann sich erhebend anfühlen, sich komplett in seine imaginierte Hässlichkeit und Nichtbegehrtheit fallen zu lassen, dass es weh tut.
Hilft es, wenn andere Leute Ihnen sagen »Aber Tom, du bist doch gar nicht hässlich«?
Odell: Leider nicht, denn Zuspruch von außen ändert nichts an meiner Beziehung zu mir selbst. Zum Beispiel ist es angenehm, wenn Menschen nett zu mir sind und mir nach Konzerten vielleicht sagen, was ihnen ein be-stimmtes Lied von mir bedeutet. Ich gehe dann trotzdem oft aus so einem Gespräch weg und denke mir »Hat er mich verwechselt? So gut, wie er sagt, bin ich doch gar nicht«. Je mehr man mich preist, desto mehr verachte ich mich oft selbst.
Das versöhnliche »The End Of Suffering« beschließt das Album. Was kommt danach?
Odell: Im Moment neige ich zu sagen: eine lange Pause. Ich habe vier Alben in fünf Jahren gemacht und eine ziemliche Welle geritten. Ich war so viel unterwegs, dass ich mich nach einer festen Basis sehne. Ich freue mich sehr auf meine Tournee, aber danach hätte ich große Lust, einfach nur Zeit mit meiner Frau und unserem Hund zu verbringen. (GEA)
Album: »Wonderful Life« (Urok) Live: 14. November, Olympiahalle, München 22. November, SAP Arena, Mannheim
ZUR PERSON
Tom Odell wurde 1990 im südenglischen Chichester geboren. Er wurde 2012 mit dem Song »Another Love« bekannt. Sein Debütalbum »Long Way Down« aus demselben Jahr erreichte in England Platz 1. »A Wonderful Life« ist sein inzwischen siebtes Album. (GEA)

