»Slawa Ukrajini!« - Ruhm der Ukraine! - ruft Sänger Oleh Psjuk mit seinem rosa Filzhut überglücklich, als sein Land zum dritten Mal in der Geschichte des ESC zum Sieger ausgerufen wird.
Der Rapper aus dem Westen der Ukraine, der an diesem Montag seinen 28. Geburtstag hat, und seine Band Kalush Orchestra triumphieren in Turin mit dem Lied »Stefania«. Bei einem Wettbewerb, der wegen Russlands Angriffskrieg gegen das Land so politisch wie nie zuvor gewesen ist. Am Ende ist es ein großer Triumph für die Ukraine in Kriegszeiten.
Große Euphorie
Die Euphorie in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo zum ESC-Finale und zur Siegerehrung schon wieder Sperrstunde wegen des Kriegs herrscht, ist am Sonntag mit den Händen greifbar. Ein Zug der ukrainischen Eisenbahn soll künftig »Stefania Express« heißen - nach dem Siegersong, den Psjuk seiner Mutter gewidmet hat. Präsident Wolodymyr Selenskyj nimmt den Erfolg als Omen für den Kampf gegen Russlands Invasion: »Ich bin überzeugt, dass unser siegreicher Akkord in der Schlacht mit dem Feind nicht mehr fern liegt.«
Der Moderator des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Timur Miroschnytschenko, heult vor Glück Rotz und Wasser, ihm bricht die Stimme weg beim Reden. »Wir siegen an der musikalischen Front, und wir siegen auch an dieser jenen Front. Streitkräfte der Ukraine, dieser Sieg ist für Euch, für jeden, der heute unser Land verteidigt«, schluchzt er. »Haltet die Emotionen nicht zurück. Wenn Ihr weinen wollt, weint.«
»Slawa Ukrajini!«, der Spruch von ESC-Sieger Oleh Psjuk, ist längst ein geflügeltes Wort, ein Schlachtruf. Als der letzte Ton seines Liedes beim Auftritt am Samstagabend in Italien verklungen ist, ist für den Ukrainer Schluss mit lustig: »I ask all of you: Please help Ukraine, Mariupol, help Asovstal - right now.« Auf Deutsch heißt das: »Ich bitte Euch alle: Helft der Ukraine, Mariupol, Azovstal.«
In dem Asow-Stahlwerk haben sich rund 1000 Verteidiger von Mariupol verschanzt, die auf ihre Rettung warten. Psjuk bittet auch bei einer Pressekonferenz nach seinem Sieg um internationale Vermittlung, die zwar läuft, aber bisher keinen Durchbruch bringt.
Ein historisches Ergebnis
Es sind die zwei Sätze des Abends, der Hilferuf an ein Millionen-Publikum in Turin, in ganz Europa, sogar in Australien. Und das Publikum antwortet: In 28 der 39 anderen Länder geben die Zuschauer den Ukrainern die Höchstwertung: douze points - 12 Punkte. Auch das deutsche Publikum vergibt die Bestnote an die Ukrainer. Am Ende siegen die ukrainischen Teilnehmer in der Nacht zu Sonntag haushoch mit 631 Punkten. Ein historisches Ergebnis.
Damit steht eine Frage im Raum: Wo wird der ESC 2023 ausgetragen? In der Ukraine herrscht derzeit Krieg, was eine Austragung Stand jetzt nicht möglich macht. Präsident Wolodymyr Selenskyj will den größten Musikwettbewerb trotzdem unbedingt im Land: »Unser Mut beeindruckt die Welt, unsere Musik erobert Europa! Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision! Zum dritten Mal in unserer Geschichte«, sagt Selenskyj. Er glaube daran, dass dies nicht der letzte Sieg sei.
2004 gewann die ukrainische Sängerin Ruslana mit »Wild Dances«; 2016 siegte Jamala mit dem Song »1944«, ebenfalls ein politisches Lied, schon damals sah sich die Ukraine mit Russland im Krieg um den Osten des Landes. Aber seit fast drei Monaten ergreift das Blutvergießen nun weite Teile des Landes.
Vergessen ist das Leid der Menschen bei Party und Show nicht. Aber für die Ukraine ist der neue ESC-Sieg auch Grund, sich als mächtige europäische Musiknation zu feiern. Da das osteuropäische Land erst seit 2003 teilnimmt und auch mal aussetzte, gilt es als erfolgreichster Teilnehmer überhaupt.
Der russische Krieg aber stellt auch für die ukrainische Musikindustrie einen klaren Bruch dar, da viele Künstler ihr Geld bisher vor allem im russischsprachigen Raum verdient haben. Der Großteil von ihnen bekennt sich nun offen zu ihrer Herkunft und unterstützt mit Botschaften und mit Benefizkonzerten die Ukraine und ihre Armee. Nur wenige, wie beispielsweise die ESC-Kandidatin von 2008, Ani Lorak, haben sich komplett zurückgezogen und warten ab.
Große Solidarität
In der Nacht in Turin feiert Europa die nach Freiheit strebende Ukraine. Rückenwind sogar von der Konkurrenz: Künstler solidarisieren sich in der Show. Deutschlands Vertreter Malik Harris, der mit sechs Punkten Letzter wird, dreht am Ende seines Songs seine Gitarre um. Auf der Rückseite ist, anders als bei vorherigen Auftritten, eine Ukraine-Fahne zu sehen mit der Aufschrift »Peace« (Frieden). Auch die Isländerinnen haben auf ihren Instrumenten Ukraine-Fahnen. Sie rufen: »Peace for Ukraine!« - Frieden für die Ukraine.
Eigentlich ist das beim ESC ein No-Go. »Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur« sind in der Show laut Regelwerk explizit verboten. Die Europäische Rundfunkunion EBU entscheidet sich aber für eine andere Auslegung der Statements - mit Verständnis statt Sanktionen. Die EBU zur dpa: »Wir (...) betrachten die Äußerungen des Kalush Orchestra und anderer Künstler zur Unterstützung des ukrainischen Volks eher als humanitäre Geste und weniger als politisch.«
Das Symbol der Sonne
Am Ende zeigt die EBU angesichts des Leids in der Ukraine also Nachsicht. Eine andere subtilere Botschaft dürfte sie vermutlich aber vor der Show gar nicht erkannt haben: Kalush Orchestra wird in den sozialen Netzwerken der Ukraine für das Sonnen-Symbol gefeiert, das die Band beim Auftritt ins Bühnenbild eingebaut hat. Das Symbol steht für das ostukrainische Gebiet Donezk. Russland will die Region Donezk, wo Mariupol liegt, komplett unter Kontrolle bringen will.
Sänger Psjuk macht deutlich, dass er dagegen kämpfen will. Er will zwar erst noch Zeit mit seiner Freundin, seiner Mutter und Familie verbringen. Doch in seinem Land ist Krieg: »Wir haben eine zeitweise Genehmigung, hier zu sein, und in zwei Tagen werden wir in der Ukraine sein. Es ist schwer zu sagen, was wir tun werden. Wie jeder Ukrainer sind wir bereit, zu kämpfen und bis zum Ende zu gehen.«
Wie ernst das ist, zeigt ein von den ukrainischen Behörden am Sonntag veröffentlichtes Video, das zeigen soll, wie Russland das Stahlwerk in Mariupol mit Brandbomben beschießt. Der Feuerregen, heißt es in russischen Hasskommentaren, sei die Antwort Moskaus auf den Sieg der Ukraine.
Russische Medien berichteten zwar vom Sieg, anders als in den Vorjahren darf das Staatsfernsehen die Show aber nicht zeigen. Russland wurde wegen des Angriffs auf die Ukraine ausgeschlossen vom ESC. Die russische Hackergruppe Killnet erklärt offen, sie wolle den ESC bekämpfen - auch weil er angeblich Homosexualität fördere.
Der ESC-Sieger 2022 aber ist unbeirrt. Am Morgen nach dem Sieg veröffentlicht Kalush Orchestra einen neuen Clip mit dem Song vor dem Hintergrund der vom russischen Krieg zerstörten Kiewer Vororte Irpin, Borodjanka und Hostomel. »Gewidmet dem tapferen ukrainischen Volk, den Müttern, die ihre Kinder schützen, all denen, die ihr Leben für unsere Freiheit gaben«, heißt es im Abspann. Das Lied sei für viele Ukrainer eine »Kriegshymne« geworden. »Aber wenn 'Stefania' nun die Hymne unseres Krieges ist, so möchte ich, dass sie die Hymne unseres Sieges wird«, schreibt Oleh Psjuk im Begleittext zum Video.
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