BERLIN. Es gibt diese charmanten Orte natürlich noch; die Matratzen auf den Gehsteigen, die zerbrochenen Flaschen am U-Bahnhof, den Imbiss mit Technomusik.
Berlin lebt vom Image, dass aus wenig ständig Neues entsteht und dort (scheinbar) alles geht. Nun verlassen wesentliche Teile der Fashion Week überraschend die Stadt, Kunstsammlungen wandern ab und Clubs fürchten ums Überleben.
Mit dem Ausdruck »Arm, aber sexy« hat der frühere Regierungschef Klaus Wowereit seine Stadt einst beschrieben. Herausgekramt wird das Zitat heute gern, aber trifft es eigentlich noch zu? Berlins Tourismuschef Burkhard Kieker reagiert eher allergisch. Der Ausdruck sei bei der Marketinggesellschaft verboten. »Er stimmt schon lange nicht mehr.«
Die Hauptstadt war lange verschrien als verarmter Klotz am Bein der reicheren Bundesländer. Nichts auf der Tasche, aber spendierfreudig: gebührenfreie Kitas, Milliarden für Kulturbauten und ein Flughafen als Fass ohne Boden - das ist bis heute hervorragender Zunder für wohldosierte Wutausbrüche in süddeutschen Bierzelten.
Mittlerweile hat sich Berlin an vielen Ecken verändert. Nirgendwo in Deutschland wuchs in den vergangenen Jahren die Zahl der Erwerbstätigen stärker. Zehntausende Menschen zogen an die Spree, auch weil sie dort Arbeit fanden. Auf Brachflächen entstanden Wohnungen mit Doppelwaschbecken und Kücheninsel. Selbst ein Pastrami-Sandwich kann 15 Euro kosten.
Junge Unternehmen sammelten in den vergangenen Jahren bei internationalen Geldgebern Milliarden Euro ein, Studien sprachen von Europas Start-up-Hauptstadt. Weltkonzerne wie Google und Siemens investieren in Berlin, und auch für das geplante Tesla-Autowerk in Brandenburg war die Nähe zur Hauptstadt ein Argument.
Noch immer ist das Bundesland hoch verschuldet, doch in den vergangenen acht Jahren gab es einen Haushaltsüberschuss nach dem anderen. »Wir schließen kontinuierlich die Wunden, die Krieg und Teilung dieser Stadt zugefügt haben«, registrierte die Wirtschaftssenatorin. Doch damit schlossen sich auch Freiräume.
Die Mieten sind explodiert, der Raum für Querköpfe und Kreative wird enger, das ungehobelte Berlin glatter. Die Clubszene etwa fürchtet ums Überleben. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, mussten Clubs zwar überall schließen. Aber in Berlin macht das Nachtleben zwischen Späti und dem bekannten »Berghain« viel aus.
Das merkte man auch im Januar während der Modewoche. Der große Laufsteg lag im alten Kraftwerk und soll auch dort bleiben, mehrere Modemessen dagegen ziehen nach Frankfurt am Main. Die Neuauflage ist dort für Sommer 2021 geplant. Der Wunsch: sich neu aufstellen an einem »unverbrauchten Standort«.
»Frankfurt hat vielleicht wirklich was Pragmatisches. Es ist eine Business- und Bankenstadt wie Mailand«, sagte der Modeschöpfer Wolfgang Joop diese Woche zum Abwandern der Messen. In Berlin habe vor allem Partystimmung in der Luft gelegen. »Aber das reicht eben heute nicht aus, wo Leute alles neu bedenken müssen und sich überhaupt überlegen müssen, wie es weitergeht.«
Dass Teile der Fashion Week nach Frankfurt ziehen, findet Heinz Gindullis - genannt Cookie - traurig. Er gründete in den 90ern den legendären Cookies Club und betreibt heute zwei Restaurants. Die Fashion Week habe internationales Flair gebracht. Berlin habe sich immer verändert, aber die Stadt sei gerade nicht gut darin, die guten Dinge von Berlin zu behalten. »Und das ist schade.«
Früher habe man Berlin wegen der Loveparade gekannt, dann wegen der Mode. Auch die Berlinale sei wichtig. Nun steckten die Restaurants und Clubs wegen der Corona-Pandemie in einer Krise. Politisch werde es einem manchmal nicht leicht gemacht, Neues auf die Beine zu stellen. »Andere Städte sind da schneller.« Er findet, es habe noch nie so eine große Vielfalt und Menschen mit Leidenschaft in der Stadt gegeben wie jetzt. Wowereits Spruch sei gut gewesen, passe aber nicht mehr: Statt »Arm, aber sexy« gelte eher »Arm, sexy und reich«.
Berlins Tourismuschef Kieker sieht im Weggang der Modemessen dagegen keinen Grund zur Sorge - im Gegenteil. »Nachdem wir uns die wahren Fakten angeschaut haben, sind unsere Krokodilstränen schnell versiegt«, sagte Kieker der Deutschen Presse-Agentur. Die Stadt sei dabei, ein neues Konzept auf die Beine zu stellen. »In der Modewelt ist nichts älter als die Ideen von gestern.«
Berlin habe mehr Fünf-Sterne-Hotels als New York, sagte Kieker. Nirgendwo sonst in der Republik gebe es so viele Sterne-Restaurants und sei die Gastronomie erfindungsreicher. Nach dem Verlust des Bürgertums Ende des Zweiten Weltkriegs habe die Stadt längst ihre Bürgerlichkeit zurückgewonnen, sagte Kieker. Deswegen bleibe Berlin attraktiv: »Die Leute wollen sehen, wie die Hauptstadt tickt.«
In der Stadt selbst allerdings sorgen die Veränderungen auch für Auseinandersetzungen. Die Mieten hat die Landesregierung mittlerweile mit einem umstrittenen Gesetz gedeckelt; werden etwa Kiezkneipen die alten Mietverträge gekündigt, sorgt das regelmäßig für Proteste. Dass es enger wird in der Stadt, ist auch für Clubs nicht leicht. Die Pandemie bedroht nun zusätzlich ihre Existenz.
Das Clubleben auf Pause, Modemessen auf dem Absprung - und auch in der Kunstwelt läuft beispielsweise der Leihvertrag mit der »Flick Collection« ab. Verliert Berlin also seinen Status und sein Gesicht? »Ich tue mich schwer mit Abgesängen«, sagte Kultursenator Klaus Lederer (Linke) der Deutschen Presse-Agentur. »In Berlin wurde vieles immer mal wieder totgesagt und hat sich trotzdem in neuer Form anderswo wieder und weiterentwickelt.« (dpa)